Geschichte:Das strahlende und das dunkle Bayern

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Ein Land der Lebensfreude: Gäste des Salvator-Anstichs werden im Biergarten bedient. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1932. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Der Historiker Christof Paulus hat eine originell gegliederte Kulturgeschichte geschrieben, in der er viele schöne Seiten des Freistaats beleuchtet. Er nähert sich aber auch finsteren Zeiten.

Von Hans Kratzer, Regensburg

Die Nacht war kühl und miserabel gewesen, Leutnant Joseph Naus hatte sie weitgehend damit zugebracht, am Feuer sitzend Flöhe zu knacken. Am 27. August 1820 um vier Uhr in der Früh machte sich Naus zusammen mit einem Bergführer und einem Gehilfen auf einen beschwerlichen Weg. Um die Mittagsstunde herum standen die Männer, umtost von einem Schneesturm, auf dem Westgipfel der Zugspitze. Sie hatten die erste datierbare Besteigung von Deutschlands höchstem Berg geschafft. An den eigentlichen Auftrag ihres Wagnisses zu denken, war wegen der Wetterkapriolen jedoch unmöglich. Naus war Geometer, er sollte die Grundlagen für eine Werdenfelser Karte schaffen. Seit dem Jahr 1810 lief nämlich in Bayern das Großprojekt Landvermessung.

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Diese Episode stellt der Historiker Christof Paulus an den Anfang seiner großen Darstellung der bayerischen Landesgeschichte, es ist ein Auftakt, der etwas überraschend kommt. Denn alle großen Werke der bayerischen Geschichtsschreibung folgten bislang einer chronologischen Abfolge, die spätestens in der Zeit der Kelten und Römer begann und dann Schritt für Schritt fortgeschrieben wurde.

Paulus beschritt einen anderen Weg, der das Lesen seines 620 Seiten starken Werks "Bayerns Zeiten" über weite Strecken zu einem Vergnügen macht. Das Buch erweist sich als eine Fundgrube an interessanten, lehrreichen und kuriosen Geschichten, die zwar zum Teil bekannt sind, aber das Thema Landesgeschichte dennoch von einer ungewohnten Warte aus beleuchten und somit neue Einsichten ermöglichen.

Paulus, außerplanmäßiger Professor für Landesgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat bereits als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus der Bayerischen Geschichte erprobt, wie man die Vergangenheit spannungsreich vermitteln kann, wenn man auch wenig beachtete Quellen und Methoden heranzieht. Man müsse vor allem die Sinne erreichen, sagt er, und das leuchtet auch sofort ein.

Mit Schriftquellen allein ist Begeisterung für Geschichte nur schwer zu erringen, weshalb Paulus zusätzlich auf die Aussagekraft von alten Bauten, Votivtafeln, Glocken, Fresken, Volksliedern und Biergärten vertraut und diese Quellen üppig und mit Gewinn in seine Erzählung einbaut.

Mancher mag schon einmal den Namen des Pfarrers Candid Huber (1747-1813) gehört haben, der im Bayerischen Wald begonnen hatte, Obst- und Waldgehölze zu studieren. Rasch stieg er zum bekannten Naturforscher auf, er legte Holzbibliotheken an und schrieb 130 Fachbücher. Paulus schildert im Buch unter anderem Hubers Beerdigung und den misslichen Umstand, dass man glatt vergessen hatte, einen Sarg für ihn anfertigen zu lassen. In der Leichenrede stellte der Direktor des Alten Botanischen Gartens in München eine Vermutung an, deren rhetorische Schönheit bis heute strahlt: "Es war, als hätten sich die Bäume des Waldes geweigert, für den, der für sie lebte und schrieb, die nötigen Bretter zu liefern."

Die Soiernspitze (Mitte) von der Schöttelkarspitze aus betrachtet. Für Wanderer ist sie ein beliebtes Ziel. Allerdings sollte man den Aufstieg nicht in Konfirmationsschuhen versuchen. (Foto: Sebastian Beck)
Bismarck-Waage in Bad Kissingen. Das aktuelle Gewicht des Reichskanzlers Otto von Bismarck war Tagesgespräch im Weltbad Bad Kissingen, wenn der übergewichtige Politiker zur Kur anreiste. (Foto: Gerhard Nixdorf/Stadt Bad Kissingen (Fotosammlung))

Das Buch ist so angelegt, dass man es nicht von vorne bis hinten lesen muss. Man schlägt es irgendwo auf, und ist mittendrin im überquellenden Reichtum der bayerischen Historie, den Paulus als eine "Geschichtsschatzkammer" bezeichnet. Kein Wunder, dass es nur wenige Länder gibt, aus denen ähnlich viele berühmte Geschichtswerke hervorgegangen sind. Noch heute zitieren Historiker gerne aus der Chronik des Johannes Aventinus (1477-1534), der als Vater der bayerischen Geschichtsschreibung gilt.

Im 19. Jahrhundert ragt dann die achtbändige Ausgabe von Siegmund Riezler heraus, gleichsam der Vorläufer des von Max Spindler herausgegebenen "Handbuchs der bayerischen Geschichte". Ruhm erwarben sich darüber hinaus die Monografien von Michael Doeberl, Benno Hubensteiner, Karl Bosl, Andreas Kraus, Friedrich Prinz, Claus Hartmann und Teja Fiedler, zuletzt gesellte sich die Geschichte des modernen Bayern von Manfred Treml dazu.

Paulus setzt freilich nicht auf die bewährte Blickachse, die vor allem auf die Mächtigen und ihre Sparifankerl schielt. Er erzählt die Kulturgeschichte Bayerns von der ersten Erwähnung um das Jahr 500 bis zum Mauerfall 1989 in anderer Anordnung. "Ich wollte quasi neue Scheinwerfer aufstellen", wie er es ausdrückt. So erfährt man viele Dinge, an die man als Leser zunächst gar nicht denkt. Etwa, was uns die alpinen Landschaften, aber auch bemalte Kirchengewölbe über die Vielfalt an Obst, Gemüse und Pflanzen verraten, die es in Bayern einst gab?

Ein anderes Kapitel befasst sich mit der Tonsur des Agilolfingerherzogs Tassilo III. und wie sie zu bewerten ist. Es geht um jene Absetzung des Bayernherzogs, dem man die Haare geschoren hatte, um ihn ehrlos zu machen. Der Prozess liegt mehr als 1200 Jahre zurück, aber er hat sich bis heute ins kollektive bayerische Gedächtnis eingegraben und ist immer noch imstande, Zorn und Entrüstung zu wecken. Während sich Phänomene wie der um 1880 anschwellende Bismarck-Kult schnell wieder auflösten.

Die Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland auf der Wies, besser bekannt als Wieskirche, zählt zu den Weltkulturerbestätten der Unesco. (Foto: Sven Hoppe/dpa)
Eine bewaffnete Bürgerwehr führt im Mai 1919 in München gefangene Rotgardisten ab. (Foto: SZ Photo)

"Auch Klänge, Geräusche, Stimmen sind Teile historischer Konstruktion und Sinnstiftung", sagt Paulus. Es liegt nahe, sich beispielhaft die Kapitel Krieg und Revolution vorzunehmen, die nicht zu denken sind ohne die Schreie der Verletzten und ohne das Donnern der Gewehre und Kanonen. Allein der Blick auf die Klangwelten eröffnet ständig neue Perspektiven - vom Schlachtenlärm über den "Klang des Geldes" bis zur klösterlichen Stille. Paulus zieht aber auch die Geschichte der Schönheit heran, ausgehend von der Schönheitengalerie König Ludwigs I. bis hin zur allumfassenden Ästhetik und Illusionskunst des Barocks und des Rokokos. Mit der Fülle jener Pracht, wie sie in der Wieskirche zu finden ist, und mit jenen Lichträumen in allen möglichen Kirchen, die bis heute an Faszination nichts eingebüßt haben.

Paulus setzt dem Ganzen dann die Ästhetik des Hässlichen und der Faszination des Todes entgegen, die allein schon in den Totentanzdarstellungen ihre volle Wucht entfaltet. Wie hat all das, wie haben Farben, Klima und Krankheiten den Lauf der Geschichte beeinflusst? Paulus stellt Fragen über Fragen, nicht zuletzt zur Geschichte der Medien und der Kommunikation, aber auch zum Wandel im Umgang mit Homosexualität und mit Menschen mit Behinderung, wobei er mit seiner breit angelegten Methodik meistens überzeugende Antworten findet.

In der Mitte der Darstellung breitet er die Geschichte Bayerns in der NS-Diktatur aus, und auch hier wählte er mit Tagebucheinträgen aus der Zeit von 1932 bis 1945 eine Darstellung, die nicht der klassischen Form entspricht, aber neue Zugänge zu dem schrecklichen Geschehen eröffnet, wodurch das Leid der Verfolgten schmerzlich erkennbar wird.

Christof Paulus, Bayerns Zeiten. Eine kulturgeschichtliche Ausleuchtung, Pustet Verlag, 34,95 Euro.

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