Bilanz der Impfkommission:Das Pandemie-Dilemma

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Fast 95 Prozent der bewilligten Härtefallanträge hat die Impfkommission im März und April bearbeitet. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Wer soll bevorzugt geimpft werden und wer muss noch warten? Eine Kommission hat 8734 Menschen als Härtefälle eingestuft. In der Priorisierungsgruppe drei warten derweil noch Abertausende auf ihre Termine.

Von Andreas Glas, München

Es geht also wieder ums Impfen. Konkret um Menschen, "die das Gefühl haben, durchs Raster zu fallen", sagt Klaus Holetschek. Dieses Gefühl haben ja gerade viele. Vor allem diejenigen, Priorisierungsgruppe drei, die endlich an der Reihe wären für ihre erste Impfung - und nicht dran kommen, da sich jetzt die Zweitimpfungen stauen. Aber diese Menschen meint der Gesundheitsminister gar nicht, als er am Montag hinter den Mikros steht. Er meint nicht die überwiegend gesunden Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel oder Gymnasiallehrkräfte in Gruppe drei. Sondern die Härtefälle, etwa Schwerkranke und Behinderte, die gar nicht von der Impfverordnung erfasst sind, aber im Fall einer Corona-Infektion besonders gefährdet wären - und zunächst nur über die Impfkommission des Freistaats die Chance auf einen früheren Impftermin hatten. Mehr als 8400 Anträge hat die Kommission seit März bewilligt. "Eine große und gewaltige Menge", sagt Holetschek (CSU).

Im Juni nun beendet die Impfkommission ihre Arbeit, nach drei Monaten, weil nur noch wenige Anträge kommen. Inzwischen können sich Menschen in Härtefällen ja auch an Haus- oder Fachärzte wenden, die - im Gegensatz zu den Impfzentren - nicht mehr an die Priorisierung gebunden sind und selbst entscheiden dürfen, wie dringend eine Impfung im Einzelfall ist. Bei der Pressekonferenz im Gesundheitsministerium zieht die Kommission nun also Bilanz, das die offizielle Lesart dieses Termins. Vielleicht ist es aber auch Holetscheks Versuch, inmitten der allgemeinen Ungeduld die Relationen und Erwartungen zu sortieren. "Wer jetzt warten muss, der wartet wenigstens in einer Situation, die nicht mehr so brandgefährlich ist", sagt Kommissionsmitglied Susanne Breit-Keßler - und betont damit den Unterschied zu den Härtefällen, die ja nicht nur besonders gefährdet sind, sondern auch um einen Impftermin kämpfen mussten, als die Inzidenz höher und die Ansteckungsgefahr größer war als jetzt - überwiegend im März und April, als die Impfkommission fast 95 Prozent der bewilligten Härtefallanträge bearbeitet hat.

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Breit-Keßler, 67, früher Regionalbischöfin für München und Oberbayern, erinnert sich da nicht nur an Behinderte oder Menschen mit seltenen Lungenerkrankungen - sondern auch an Kinder, die nachweislich ihre hochbetagten Eltern pflegen, "die sehr gefährdet waren". In solchen Fälle habe die Kommission "für eine höhere Priorisierung plädiert, obwohl der Mensch selber ganz gesund ist", der seine Eltern pflegt. Oder ein anderer Fall, "wo in der Familie ein Angehöriger bereits an Covid-19 verstorben war, ein anderer erkrankt ist, und der dritte Mensch einfach eine irrsinnige Angst hatte, die Krankheit auch zu bekommen", sagt Breit-Keßler, "da muss man was machen". Auch bei Eltern von schwerbehinderten Kindern habe sich die Kommission in ihren wöchentlichen Beratungen "ganz klar" für eine hohe Priorisierung ausgesprochen.

Karl-Walter Jauch, 69, früher Direktor des Klinikums der LMU München und Vorsitzender der Impfkommission, sind derweil besonders die Menschen mit seltenen Erkrankungen in Erinnerung geblieben. "Was es alles für Schicksale gibt und für Krankheiten, da haben wir dazugelernt", sagt Jauch, der neben Holetschek und Breit-Keßler bei der Pressekonferenz spricht. Im März hätten relativ viele Menschen mit schweren Lungenerkrankungen die Kommission um einen früheren Impftermin gebeten, die auf Sauerstoff angewiesen sind, sagt Jauch. Im April hätten dann mehr Menschen einen Termin beantragt, die zwar schwer lungenkrank sind, aber nicht auf Sauerstoff angewiesen. Im Mai seien "auch Anträge gekommen von Leuten mit Heuschnupfen". Die Zahl erkennbarer Impfdrängler sei jedoch insgesamt niedrig gewesen, sagt Breit-Keßler, "bestimmt unter ein Prozent".

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Es habe etwa Anträge von Menschen gegeben, die "auf einmal ihre hochbetagten Verwandten im Norden Deutschlands entdeckt haben und die dann regelmäßig pflegen mussten, von München aus", sagt Breit-Keßler. Solche plumpen Versuche müsse man "mit einem Lächeln" nehmen, da sie ja vor allem die hohe Impfbereitschaft zeigten. Sie glaube ohnehin, dass Impfdrängler "andere Wege gesucht haben" als über die Impfkommission.

Da sich manche ihre Impftermine eher erschleichen und andere warten müssen, könne sie verstehen, "dass die Menschen enttäuscht sind", sagt Breit-Keßler. Wie Minister Holetschek sieht sie das Kernproblem weiter darin, dass nicht genug Impfstoff da ist. Zugleich sei es eine "gut begründete Entscheidung" gewesen, anfangs stark auf Erstimpfungen zu setzen, um möglichst schnell einen Effekt zu haben, der die Infektionen nach unten drückt - und nun die Zweitimpfungen vorzuziehen, "weil sonst ist ja die Erstimpfung hinfällig". Seit Pandemiebeginn gehe es um schwere Entscheidungen, "die manche bevorzugen, andere benachteiligen", sagt Breit-Keßler. Die Pandemie sei "insgesamt ein Dilemma".

© SZ vom 01.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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