Um vor lauter Weh und Jammerei über die Gegenwart wieder etwas demütiger zu werden, reicht ein kurzes Blättern in den Mirakelbüchern der Wallfahrtsstätte Niederscheyern, die in der oberbayerischen Stadt Pfaffenhofen an der Ilm gelegen ist. Auf Hunderten Seiten springen einen die Schattenseiten des Lebens unmittelbar an, die Texte setzen einen Kontrast zu dem manchmal wehleidigen Gebaren der Wohlstandsgesellschaft. In Corona-Zeiten werden ein paar Wochen Home-Schooling für das schlimmste aller Leiden gehalten, während früher jedes Gewitter und fast jede Krankheit die Existenz einer Familie in Gefahr brachte.
Hans Hipp, 71, kennt die Sorgen und Ängste früherer Generationen in- und auswendig. Schließlich hat er gut 10 200 Mirakelbuch-Eintragungen aus Niederscheyern ausgewertet. Bei diesem jahrelangen Studium lernte er nicht nur die Nöte der Bevölkerung kennen, sondern auch ihren Glauben und ihre Hoffnungen angesichts der Hilflosigkeit, der sie durch Seuchen und Katastrophen ausgeliefert waren. "Viele Möglichkeiten hatten sie nicht, es gab ja kein soziales Sicherheitsnetz", sagt Hipp. Ärmere Schichten konnten sich nicht einmal eine Behandlung beim Bader leisten. So blieb nur die Zuflucht zu den himmlischen Mächten, zu Heiligen und Schutzpatronen. In der Regel spendete nur der Glaube Hoffnung und Kraft in schwerer Zeit.
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Hipp führt den Fall der Ursula Eberlin an, der exemplarisch ist für das 18. Jahrhundert, in dem die Kindersterblichkeit exorbitant hoch war. Im Jahr 1748 ist im Mirakelbuch vermerkt, dass von ihren drei neugeborenen Kindern keines zur "Heyl. Tauf kommen" konnte. Bei der vierten Schwangerschaft gelobte die Mutter als Opfergabe ein "wäxernes kindt" von der Größe ihres Babys. Dass sie dieses Gelübde erfüllte, ist im Mirakelbuch eindeutig belegt. Ohne Taufe war ein Kind nach damaliger Ansicht der Hölle geweiht. Deshalb stupste man totgeborene Kinder noch schnell an, damit sie sich wenigstens so weit rührten, dass es zum Empfang der Taufe langte. "Daran hing die ganze Hoffnung der Eltern der toten Kinder", sagt Hans Hipp.
Seit jeher wenden sich Hilfe suchende Menschen an überirdische Mächte, denen sie, um ihrem Begehr Nachdruck zu verleihen, Opfer darbrachten. Besonders im katholisch geprägten Süddeutschland wurden vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in Wallfahrtskirchen Votivgaben aus Wachs geopfert, um sich selbst, die Familie, Haus und Hof, aber auch das Vieh im Stall der Obhut von Fürsprechern anzuvertrauen. Aber auch, um für Gebetserhörungen in Krankheit, Not und Gefahr zu danken.
Dieses fundamentale Thema hat Hipp sein Leben lang fasziniert. Das hat auch mit seinem Beruf zu tun. Denn die Mirakelbuch-Eintragungen von Niederscheyern hängen unmittelbar mit seinem Leben zusammen. Im Geschäftshaus der Familie Hipp in Pfaffenhofen wird seit 400 Jahren das Handwerk der Wachszieher und Lebzelter ausgeübt, Hipp ist einer der letzten Wachszieher und Lebzelter, die es in Deutschland noch gibt.
"Seit dem 17. November 1610 können wir urkundlich lückenlos die Lebzelter- und Wachszieherei in unserem Haus nachweisen", sagt Hipp. Konkret bedeutet das, dass hier Honig und Wachs verarbeitet wurden, und zwar zu Lebzelten, Lebkuchen, Kerzen, Wachswaren und Votivgaben. Schon als Kind, sagt er, sei er gebannt gewesen von den wächsernen Figuren und Abgüssen menschlicher Körperteile und Organe, Häusern und Tieren sowie von den alten Holzformen, die in seinem Elternhaus überall in Schränken und Vitrinen aufbewahrt wurden. Die geheimnisvollen Kult-Objekte ließen ihn nicht mehr los.
Später hat er, um das wertvolle Erbe zu bewahren, in seinem Konditor- und Kaffeehaus, das jetzt von seinem Sohn geführt wird, ein Lebzelter- und Wachsmuseum eingerichtet. Die alten Model im Hipp-Haus wurden nie durch Erbstreitigkeiten oder ähnliche Unglücke getrennt, alles blieb im Haus und bildet nun eine einmalige Sammlung. Mit den Jahren wuchs Hipps Interesse an der Bedeutung und am spirituellen Hintergrund der Votivgaben.
Votivfigur des Prinzen Maximilian Philipp Hieronymus (Bayern-Leuchtenberg, 1638-1705, St. Benno-Kapelle in der Frauenkirche München).
Votivpaare aus der ehemaligen Lebzelterei Surauer, Wasserburg.
Model mit Krötenmotiv (ehemalige Lebzelterei Gautsch, München).
Mit großer Sorgfalt hütet er die historischen Schätze des Lebzelterhauses. Mehr als 60 alte Holzformen gehören dazu, die älteste stammt von 1684, mit ihrer Hilfe wurden Votivgaben aus Wachs gegossen. Hipp schaute sich aber auch bei seinen Kollegen um. Über Jahrzehnte hinweg spürte er Votivgabenmodel anderer Lebzelter auf, goss sie mit Wachs aus, fotografierte die Abdrücke und die Model und erstellte damit die erste umfangreiche Dokumentation wächserner Opfergaben in Altbayern.
Irgendwann wurde Hipp klar, dass der schriftliche und der handwerkliche Nachweis des Phänomens Votivbrauchtum in Pfaffenhofen nur gut zwei Kilometer auseinanderliegt, es ist die Distanz zwischen dem Café Hipp und Niederscheyern. Vor gut 40 Jahren hatte ihm der damalige Bibliothekar des Klosters Scheyern, Pater Franz Gressierer, einen Einblick in die Mirakelbücher ermöglicht. "Ich war sofort gepackt von der Originalität und Ausdruckskraft der Texte", erinnert sich Hipp, den man wegen seiner drahtigen Gestalt auf den ersten Blick keineswegs für einen Konditor oder Lebzelter halten würde. Die Mirakelbücher und das alte Handwerk zusammenzuführen und auszuwerten, das sah er als seine Aufgabe, nachdem er sich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte.
Vier Jahre, sagt er, habe er daran gearbeitet, manchmal zum Leidwesen seiner Frau. "Aber ich musste es machen, und ich hab es gemacht." Herausgekommen ist ein großartig gestaltetes Buch, das Hipp aus eigenen Mitteln finanziert hat. Als einen "Glücksfall für die Forschung" bezeichnet Nina Gockerell, die ehemalige Leiterin der Volkskundeabteilung des Bayerischen Nationalmuseums, das Werk in ihrem Vorwort. Ihre Begründung: Weil mit den zehn in der Klosterbibliothek von Scheyern erhaltenen Mirakelbüchern aus den Jahren 1635 bis 1803 eine direkte Verbindung zwischen der Marienwallfahrtskirche Niederscheyern und den Holzmodeln der Familie Hipp dokumentiert werden kann.
Tatsächlich lässt sich anhand der Verlöbnisse und Gebetserhörungen, die mit Namen, Herkunft und sozialem Stand der Hilfesuchenden in den Mirakelbüchern verzeichnet sind, über 168 Jahre hinweg exakt nachvollziehen, von wem und aus welchem Anlass die Votivgaben in der Wachszieherei in Pfaffenhofen erworben wurden. Die Menschen opferten Wachsfiguren, auch Darstellungen der von Krankheit betroffenen Körperteile, etwa wächserne Hände, Arme und Beine, Ohren, Brüste, Zähne und Zungen, dazu Herzen und Lungen. Oder gar ein Augenpaar, wie die Hütersfrau Maria Seitz, die sich 1740 für ihren plötzlich erblindeten Mann hilfesuchend an die wundertätige Liebe Frau von Niederscheyern wandte. Weil der Ehemann "das Vich nicht mehr gesechen", verlobte sie sich mit "ein baar wäxernen Augäpfeln" nach Niederscheyern, woraufhin, er "gleich seine Augen eröffnen khönen".
Hipps Werk leuchtet das früher so bedeutende und heute fast vergessene Thema Wachs und Votivgaben in einer bislang nicht gekannten Tiefe und Dichte aus. Er beschreibt erschöpfend alle Aspekte des Brauchtums sowie die dazugehörigen Objekte. Seine Recherchen führten ihn zu vielen Wallfahrtskirchen, Wachsziehern und Museen in ganz Bayern. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse konnte er damit bestens verknüpfen mit seiner eigenen Tätigkeit als Lebzelter, der das Handwerk vor 50 Jahren vom Vater erlernt hat.
Um das Buch umfassend erstellen zu können, erlernte er sogar die Kunst der Sachfotografie. Dass Ergebnis zeigt, dass es Hipp auch hier zur Meisterschaft gebracht hat. Die Aufnahmen bringen die mystische Formensprache der wächsernen Votivgaben und die Kunst der Modelstecher trefflich zum Ausdruck.
Hans Hipp: Wachs zwischen Himmel und Erde (Vorwort Nina Gockerell), Hirmer Verlag, 49,90 Euro. Hipp stellt sein Buch an diesem Samstag, 24. Oktober 2020, von 9 bis 16 Uhr im Innenhof des Cafés Hipp am Hauptplatz in Pfaffenhofen vor. Auch an den folgenden Samstagen bis Weihnachten ist er dort von 9 bis 16 Uhr anzutreffen.