Die Erdbeben Anfang Februar verwandelten die antike Stadt Antakya in der Südost-Türkei in ein riesiges Trümmerfeld. Noch am Tag des Bebens setzen sich die Augsburger Ali Can Günenç und Hikmet Aksoy in den Flieger. Ohne Zögern starteten Neffe und Onkel eine private Hilfsaktion mit ungewissem Ausgang. Denn auch Nachbeben bedrohten Überlebende und noch stehende Gebäude. "Am Anfang hatte ich den Ernst der Lage nicht richtig gecheckt. Erdbeben gibt es ja dort, wo unsere Familien herkommen, öfter mal", sagt Günenç. Erst als die Cousins über Whatsapp schrieben, sie sollten Wasser und Essen mitbringen, verstand er, es war nicht nur irgendein Beben.
Bei Stromausfall und Chaos, die Stadt noch dunkel und vom Internet abgeschnitten, kamen die beiden in einem geliehenen Auto aus dem knapp 200 Kilometer entfernten, unversehrten Adana in Antakya an. Die Rufe der Verschütteten waren noch zu hören und traumatisierte Verletzte liefen durch die Trümmerhaufen. "Es war apokalyptisch", sagt Günenç. Freunde, Verwandte, Kollegen schickten ihnen im Lauf des folgenden zweiwöchigen Einsatzes Geld. 13 000 Euro insgesamt. Über Western Union holten sie es in Adana ab. "Wir versteckten es im Fußraum des Autos. Es war alles etwas anarchisch und auch nicht ganz ungefährlich."
Zwei Wochen waren die beiden vor Ort, haben blutige Füße versorgt, Trümmerstücke aus Kinderohren geholt, Geld verteilt, Unterwäsche und Kinderschuhe gekauft. Jetzt sind sie wieder zu Hause im Augsburger Stadtteil Bärenkeller. Die Ruhe zwischen den niedrigen Häuschen und dem gepflegten Gärtchen will nicht so recht passen zu jener Jahrhundertkatastrophe, die ihre zweite Heimat zerstört hat.
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Die Familie von Günenç gehört zur arabischsprachigen Minderheit schiitisch-alawitischen Glaubens, von der es in Augsburg einige Hundert Familien gibt. Sie alle stammen aus der südosttürkischen Region Hatay, deren Hauptstadt Antakya und dem historischen Landstrich zwischen der syrischen Grenze und dem Mittelmeer. Schon Paulus predigte dort, gründete die ersten Kirchen. Günenç und Aksoy sprechen Arabisch und Türkisch. Deutsch sowieso, mit Augsburger Dialekt. Am großen Esszimmertisch im Wintergarten wechseln die Sprachen in größter Selbstverständlichkeit hin und her.
Aksoys Vater kam 1972 von Antakya als Textilarbeiter nach Augsburg. Er, seine Frau und elf Kinder, darunter Hikmet Aksoy, legten den Grundstein für eine neue Familiengeschichte. Den Kindern gelang der Aufstieg. Aksoy studierte in Rosenheim Kunststofftechnik, arbeitet heute für Webasto als Projektentwickler. EU-weit ist der 44-Jährige unterwegs. Sein Neffe Ali Can Günenç, 33, die dritte Generation, lernte Laborant und Rettungsassistent und studiert jetzt an der Ludwig-Maximilians-Universität München Medizin. Nebenher arbeitet er in einer onkologischen Praxis und schreibt an seiner Doktorarbeit.
Solche Geschichten hat die Einwandererstadt Augsburg mit ihrer lange florierenden Textilindustrie tausendfach geschrieben. Insgesamt 23 000 der rund 300 000 Einwohner dort haben einen türkischen Hintergrund. Viele von ihnen stammen aus jenen elf Provinzen, in denen das Beben die Landfläche um sechs Meter verschoben hat. 50 000 Menschen verloren offiziellen Abgaben zufolge ihr Leben. In den beiden alawitischen Organisationen der Stadt, dem alawitischen Kulturverein und den 18 Vereinen der türkischstämmigen Muslime ist die Betroffenheit groß.
Aksoy senior zog nach der Rente wieder hierher. Er war ein Scheich, ein alawitischer Gelehrter, und publizierte theologische Abhandlungen und besaß eine private Bibliothek mit 4000 Büchern. Er stürzte in seiner Wohnung im achten Stock auf die Straße, nachdem die unteren Stockwerke eingebrochen waren. Hikmet Aksoy fand den Leichnam des Vaters, schlug ihn in eine Decke. Ein Lkw-Fahrer, der zufällig vorbeikam, fuhr sie zur Uniklinik. "Dieses Erlebnis, meinen Vater auf einer kalten Lkw-Ladefläche durch dieses Chaos zu fahren, war das Schlimmste für mich."
Auch das Begräbnis war eine Ausnahmesituation. "Wir haben ihm bei Nacht, in völliger Dunkelheit, neben unserer Familienstätte auf dem Friedhof ein Grab geschaufelt", berichtet der Neffe. Er sieht noch, wie sein Onkel über ihm steht und mit dem Handy Suren rezitiert. "Das blaue Licht, das im Dunkeln das Gesicht meines Onkels beleuchtete. Werde ich nie vergessen." Einen vermissten Cousin fanden sie unter den Trümmern. Ein Pfeiler war auf ihn gestürzt. "Er wollte meine Oma retten, die ein paar Meter weiter hinten in der Wohnung saß. Ihr ist nichts passiert. Er war sicher sofort tot", erzählt Günenç.
Das Gebäude, in dem er die Ferien seiner Kindheit verbrachte, war gekippt. Die Leiche lag in einem Spalt. "Wir wollten ihn unbedingt bergen, für seinen Vater." Ohne weitere Diskussion seien dann ledige Verwandte und solche, die bereits Väter sind, in die Spalte rein. "Ich habe meine Kinder schon gesehen. Deine Frau ist schwanger, bleib du draußen. Das sagten sie zu mir." Der Körper des Cousins war eingeklemmt, ein Bagger nicht in Sicht. Günenç, der Mediziner, erklärte den Männern im Spalt, wie der Leichnam geteilt werden musste, um ihn bergen zu können.
Überhaupt - die Baggerfahrer. "Ohne sie geht nichts", sagen Aksoy und Günenç. Die Menschen schlafen auf der Straße, vor "ihren" Trümmern. Um sie zu bewachen, bis der Bagger kommt. Vor einem Haus standen Polizisten. "Die dirigierten die Schaufeln der Baggerfahrer in die Löcher, die mal ihre Wohnungen waren. Sie wollten ihre Waffen sicherstellen", sagt Aksoy. Aus der Bibliothek des Vaters rettete ein Baggerfahrer durch kontrollierten Einsturz 300 Bücher.
Die beiden üben aber auch Kritik. "Für uns war keine Hilfe da - über Tage. Natürlich denkt man, ob das daran liegt, dass wir Alawiten sind", sagt Aksoy, sein Wut nur mühsam kontrollierend. Ihr Einsatz ist noch nicht vorbei. Wenn am Donnerstag die 40-tägige Trauerphase für seinen Vater endet, wird er wieder "runter" fahren. Hikmet Aksoy ist Scheich - ein Amt, das in der alawitischen Gemeinschaft vom Vater auf den Sohn übergeht. Und eine Verpflichtung, die Zeremonien für seinen Vater an dessen Grab abzuhalten. Und einen Ochsen zu spenden. Den öffentlichen Ofen zum Braten hat er von Augsburg aus organisiert, das Fleisch wird er verteilen.
Die beiden haben ein Netzwerk vor Ort aufgebaut. Ihre unabhängige Hilfe aus Deutschland hat ihnen Vertrauen eingebracht, sagen sie. Das Netzwerk, das sind ein Apotheker, ein Ingenieur und drei Cousins, verteilt über die 390 000-Einwohner-Stadt. 1000 Euro hat Günenç noch, die eingesetzt werden. "Unsere Kontakte melden uns den Bedarf, wir sprechen das ab und kontrollieren auch. Ich vertraue ihnen absolut", versichert er.
Auf Facebook, unter dem Account al.can.77 dokumentieren Onkel und Neffe ihren Einsatz im Erdbebengebiet und die Verwendung der Spenden. "Es ist noch viel Arbeit, aber wir spüren, dass die Leute schon nach vorne denken. Sie wollen wieder aufbauen." Auch diese beiden deutschen Familien, die allein in Augsburg mit Nichten und Neffen fast 200 Personen zählen, werden mit anpacken.