Mordprozess in Aschaffenburg:Angeklagter kommt frei

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Im Prozess um die Tötung einer Jugendlichen vor 40 Jahren haben die Richter den Haftbefehl aufgehoben. Als Hauptindiz galt bislang eine Bisswunde - doch das zahnmedizinische Gutachten halten sie nun für "wertlos".

Von Olaf Przybilla

Der Prozess, mit dem der Mord an der 15 Jahre alten Christiane J. aus dem Jahr 1979 aufgeklärt werden soll, war bislang schon außergewöhnlich. Ein Verfahren 40 Jahre nach einer Tat, das hat man nicht alle Tage. Es kommt auch sehr selten vor, dass gegen einen 57-Jährigen nach Jugendstrafrecht und also nicht-öffentlich verhandelt wird, was in dem Verfahren aber notwendig ist, weil der Angeklagte zum Tatzeitpunkt erst 17 Jahre alt war. Dass eine Bisswunde - nicht etwa eine DNA-Spur - am leblosen Opfer als Hauptindiz gilt, macht den Prozess zusätzlich besonders. Die neueste Wende in diesem Fall aber macht selbst erfahrene Juristen regelrecht fassungslos. Weil kein dringender Tatverdacht mehr besteht, hob die 2. Große Jugendkammer am Landgericht Aschaffenburg den Haftbefehl gegen den Angeklagten am Freitag auf. Dieser war seit Mitte Mai in Untersuchungshaft, also fast neun Monate eingesperrt. Aber nicht nur das: Die Richter wollen nun die Frage erörtern, ob der 57-Jährige "als Täter sogar ausgeschlossen" werden kann.

Die Öffentlichkeit wird vom Pressesprecher des Landgerichts, Ingo Krist, über diesen Prozess informiert. Der weiß als Jurist seine Worte präzise zu wählen. Wer aber die Codes im juristischen Jargon einigermaßen zu entziffern weiß, der ahnt, wie erzürnt Richter reagiert haben müssen, wenn ein Justizpressesprecher protokolliert, das Gericht habe sich "sehr verwundert" über die "Ausführungen der Sachverständigen" gezeigt. Übersetzt dürfte das heißen: Die Richter waren geradezu außer sich. Und zwar über die Widersprüche, in die sich eine zahnärztliche Gutachterin vor Gericht ihrer Ansicht nach verwickelt hat; und die nun zur unverzüglichen Freilassung des 57-Jährigen geführt haben.

Aschaffenburg
:Mord-Prozess vor spektakulärer Wende

Eine Bisswunde sollte beweisen, dass der Angeklagte die 15-jährige Christiane J. vor 40 Jahren getötet hat. Doch in dem scheinbar eindeutigen Gutachten findet das Gericht zahlreiche Widersprüche.

Von Olaf Przybilla

Eine vorläufige Einschätzung der Gutachterin galt zuvor als wesentlicher Grund dafür, dass dieser als dringend tatverdächtig galt - also für die U-Haft.

Kurzer Rückblick. Vor drei Wochen hatte besagte Gutachterin - eine als Koryphäe geltende Zahnärztin vom Rechtsmedizinischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität - ein Gutachten abgeliefert, das vermeintlich nichts zu wünschen übrig ließ an Deutlichkeit. Sie kam zum Ergebnis, dass die 1979 festgestellte Biss-Spur am Opfer "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" durch die Zähne des Angeklagten gesetzt worden sei. Dass es bei sieben Milliarden Menschen theoretisch ein ähnliches Gebiss gebe, könne zwar nicht vollends ausgeschlossen werden. Angesichts der Vielzahl übereinstimmender Anomalien gehe indes die Wahrscheinlichkeit, dass eine andere Person das gleiche Zahnmuster wie der 57-Jährige habe, "gegen null". Das war deutlich.

Dies aber ist ein Mordprozess und einer, der sich nur auf Indizien stützen kann. Und so ging das Gericht zahnärztlichen Krankenunterlagen durch, nicht nur Lichtbilder, auch historische Zahnarztrechnungen. Man habe, erklärten die Richter, mehr als eine Woche quasi die Arbeit gemacht, die im ureigensten Sinne die von Sachverständigen sei. Man stieß dabei auf seltsame Widersprüche.

Und bestellte die Gutachterin abermals ein. Bei der zweiten Vorladung konnte diese nach Auffassung des Gerichts die aufgezeigten Widersprüche "in keiner Weise fundiert entkräften". So gebe es drei maßstabsgetreue Skizzen, bei denen die Biss-Spur aber stets an leicht veränderter Stelle eingezeichnet wurde. Trotzdem komme die Gutachterin immer zum Befund, dass die Biss-Spur und das Gebiss des Angeklagten kompatibel sei. Das könne denklogisch nicht sein. Nach Angaben von Gerichtssprecher Krist habe die Gutachterin diesen Vorhalt nicht zu erklären vermocht und habe sich "verwirrt darüber" gezeigt.

Irritiert zeigten sich die Richter auch darüber, dass die Gutachterin bei ihrer ersten Anhörung angegeben hatte, ein bestimmter Zahn des Angeklagten sei genetisch gar nicht angelegt und dies sei eine besondere Anomalie. Nun ergebe sich aber aus Röntgenbildern, dass besagter Zahn sehr wohl angelegt sei. Dies habe die Gutachterin einräumen müssen; erklärte aber, diese Bilder nicht bekommen zu haben. Was Ermittler deutlich bestreiten. Letztlich räumte die Gutachterin in der erneuten Anhörung "Fehler" ein - wollte aber bezüglich ihres Wahrscheinlichkeitsurteils nur "eine Stufe heruntergehen". Eine Stufe? Die Richter halten ihr Gutachten für "wertlos". Auch der Verteidiger Bernhard Zahn spricht von "zahlreichen Mängeln". Das Gericht will nun das Verfahren "bis in die Tiefe zu Ende führen" und voraussichtlich einen weiteren zahnmedizinischen Gutachter beauftragen. Mitte Februar soll es weitergehen - der Angeklagte kommt dann aber als freier Mann.

© SZ vom 08.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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