Man kann es so sehen: Was für eine Erholung, in Basel oder St. Margrethen endlich auf die Schweizer Autobahn rollen zu dürfen. Tempolimit 120. Diese Fairness, diese Egalität! Alle etwa gleich schnell unterwegs, mal mit 110, mal mit 130. Keine Klette am Heck, kein Mörder-Raser im Nacken. Nur fließendes Gleiten, slow driving wie auf amerikanischen Highways, nervenschonender geht es kaum.
Immer mehr Schweizer sehen es anders. Das 120er-Limit macht sie verrückt, sie fühlen sich drangsaliert und ausgebremst von regulierungswütigen, "linken" Politikern in Bern, die nur darauf aus seien, Autofahrern den Spaß zu nehmen. Es reicht ihnen nicht, es ab und zu krachen lassen zu können, wenn sie in Deutschland unterwegs sind. Wozu haben sie schließlich ihren Porsche oder BMW gekauft?
Nicht so rasant wie erhofft
Einer der Genervten ist Marco Schläpfer. Der 29-Jährige aus Uster bei Zürich fährt zwar nur VW, aber es regt ihn trotzdem auf, dass er auf freier Strecke ständig "grundlos abbremsen" müsse. Im Frühjahr gründete er eine Facebook-Gruppe, die Tempo 140 auf der Autobahn fordert. Innerhalb von zwei Wochen hatte er 100 000 Likes zusammen. Eine magische Zahl in der Schweiz: 100 000 Unterschriften sind nötig, damit eine Volksinitiative zur Abstimmung zugelassen wird.
Das entsprechende Formular platzierte Schläpfer Ende Mai zum Herunterladen auf Facebook, mit dem Ziel, "die schnellste Initiative der Schweiz" zu starten. Das hat er nicht geschafft, bisher sind erst etwa 25 000 Briefe eingegangen. Den Spitzenplatz behält die Gruppe, die innerhalb von 34 Tagen die Unterschriften für eine Initiative gegen neue Kampfflugzeuge sammelte.
Dass es für die Tempofreunde nicht so rasant vorangeht wie erhofft, könnte auch an der Skepsis des Touring Club Schweiz liegen. Der größte Schweizer Autoverein lehnt 140 auf der Autobahn ab, weil es den Verkehrsfluss nicht verbessere, sondern wegen größerer Sicherheitsabstände sogar verschlechtere. Doch nun hat die Konkurrenz vom Automobil-Club der Schweiz Unterstützung signalisiert. Die Initiative sei "angemessen und zweckmäßig", erklärte der ACS, schließlich wolle sie das schnellere Fahren nur erlauben, wenn entsprechend günstige Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnisse herrschten. Die technische Entwicklung der Fahrzeuge lasse "ohne relevantes Sicherheitsrisiko" sogar noch höhere Geschwindigkeiten zu. Und auch der Nachwuchs der populistischen Schweizerischen Volkspartei - immer dabei, wenn es um den Kampf gegen mutmaßliche Gängelungen aus Bern geht - will nun trommeln für Schläpfer und Co. Schon vor einem Jahr hatte ein Politiker der Autopartei eine Initiative ins Leben gerufen, die Tempo 130 fordert.
Das Provisorium blieb
Für diese Geschwindigkeit wurden die Schweizer Nationalstraßen ursprünglich auch konzipiert. 1977 erklärte sie die Berner Regierung zum Maximaltempo, das sie 1985 wegen des Waldsterbens auf 120 reduzierte. Was als Provisorium gedacht war, blieb. Nicht zuletzt, weil das kleine, bergige Land gut damit gefahren ist. "Mit steigenden Geschwindigkeiten nimmt die Schwere der Unfälle massiv zu", sagte Valesca Zaugg von der Unfallopfer-Vereinigung Roadcross Schweiz dem Tages-Anzeiger. Das hätten mehrere Studien gezeigt. Laut Verkehrsexperten sind die Kurvenradien, das Gefälle und die Breite der Fahrbahnen inzwischen auf 120 km/h ausgelegt. Um zähen Verkehr zu verflüssigen und den berüchtigten Ziehharmonika-Effekt zu vermeiden, halten manche sogar Tempo 80 für angebracht.
Ob es die Schweizer tröstet, dass es den Autofahrern in zehn europäischen Staaten genauso geht wie ihnen? In fünf weiteren gilt Tempo 110, in Norwegen ist auf den meisten Strecken schon bei 100 Schluss. Und manche Länder haben noch nicht mal Autobahnen.