SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Frustriert in Sydneys "Shittyrail"

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Fahren mit der städtischen Bahn, die auch "Shittyrail" genannt wird? Lieber stehen die Bürger Sydneys stundenlang mit dem Auto im Stau. (Foto: N/A)

Die Bürger der australischen Metropole sitzen lieber stundenlang im Auto als in unzuverlässigen Bussen und Bahnen. Und das Desinteresse der Politiker am Nahverkehr hält an.

Von Urs Wälterlin

John M. steht im Stau. In seinem kleinen Hyundai, auf der Autobahn M 4, irgendwo in der Betonlandschaft zwischen zwei Vororten im Westen von Sydney. Aus dem Lautsprecher tönt Mozart. Doch John beruhigt das wenig. "Jeden Morgen sitze ich hier", stöhnt der 42-Jährige, "zwei Stunden lang." Und am Abend dasselbe. Der Heimweg dauere oft noch länger. "Dann esse ich und falle halb tot ins Bett." Am nächsten Morgen beginne derselbe "Terror" wieder, wie er die Fahrt ins Büro nennt. Und das seit 15 Jahren.

Und doch will es John M. nicht anders. Öffentlicher Nahverkehr? "Nur über meine Leiche", erklärt der Angestellte eines Telekommunikationsunternehmens auf die Frage, weshalb er die 20 Kilometer ins Büro nicht mit der Bahn zurücklegt. Zum Bahnhof wären es nur zehn Minuten - zu Fuß.

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John M. ist einer von Millionen Australiern, die dem öffentlichen Nahverkehr entsagen. In der Region Western Sydney nehmen nur 12,3 Prozent der Bevölkerung Bus oder Bahn, im übrigen Sydney sind es 22,7 Prozent. In Melbourne (15,5 Prozent), Brisbane (11,4), Perth (10,2) und Adelaide (8,7 Prozent) sind es sogar noch weniger. Einer Umfrage zufolge steigen in den westlichen Vororten von Sydney die meisten Befragten im Alter von 45 bis 54 Jahren lieber im Morgengrauen aus dem Bett, wenn sie dafür eine Chance haben, dem Stau auf der Autobahn auszuweichen. Hauptsache, sie müssen sich nicht in die Bahn setzen.

Ob Sydney, Melbourne oder Brisbane: die Unzuverlässigkeit der Nahverkehrsmittel, der Mangel an Pünktlichkeit, die Unbequemlichkeit des Reisens in überfüllten, überhitzten oder unterkühlten öffentlichen Verkehrsmitteln sind ein wesentlicher Grund, weshalb auf den Hauptzufahrtsstraßen vieler Großstädte oft schon ab sieben Uhr früh Stoßverkehr herrscht. Wer trotzdem auf Bahn und Bus angewiesen ist, lässt seinem Frust freien Lauf. Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs in Sydney schimpfen im Kurznachrichtendienst Twitter über die "Shittyrail". Mit jährlich über 326 Millionen Passagieren auf 1588 Kilometer Schienen und 308 Bahnhöfen ist das städtische Bahnsystem von Sydney zwar das größte im Land. Dazu kommt Bus NSW, das Bussystem des Bundesstaates New South Wales, mit jährlich 257 Millionen Passagierfahrten. Doch der Frust ist riesig. Das öffentliche Transportsystem in den meisten Städten sei eine "Katastrophe", so der Tenor in den sozialen Medien.

Der Nahverkehr könnte bald kollabieren

Die jahrzehntelange Vernachlässigung des öffentlichen Verkehrs zugunsten von Autobahnen und Schnellstraßen, ein notorisches Desinteresse der Politiker am öffentlichen Nahverkehr, aber auch pure politische Ideologie - all diese Faktoren tragen zu einer in Australien immer schwieriger werdenden Verkehrssituation bei. Gleichzeitig wird der Bedarf immer größer: Das Land ist eines der urbanisiertesten auf dem Globus. Zwei Drittel der 23 Millionen Australier leben schon heute in den Großstädten entlang der Ostküste. Und es werden immer mehr, in erster Linie als Folge von Immigration. 200 000 Menschen pro Jahr wählen Australien als neue Heimat - die meisten lassen sich in einer der Großstädte nieder. Warner fürchten, die bis zu 1000 Kilometer voneinander entfernten, an der Küste gelegenen Metropolen Brisbane, Sydney und Melbourne würden sich irgendwann zu einem urbanen Konvolut vereinigen, einer Megacity von monumentalem Ausmaß.

Spätestens dann könnte der Nahverkehr kollabieren. Denn das System genügt schon heute nicht dem Bedarf. Die Probleme beginnen schon beim Lösen einer Fahrkarte. Ein seit der Einführung von Problemen geplagtes System verlangt, dass sich jeder Nutzer eine sogenannte "Opal"-Karte besorgt. Diese kann man sich mit Kredit aufladen lassen. Der Preis wird nach Abschluss der Fahrt bei einer elektronischen Schranke automatisch abgezogen. Grundsätzlich kein schlechtes System. Aber: Absurderweise kann die Karte vielerorts nicht in den Bahnhöfen gekauft werden. Viele Passagiere müssten dafür zum von der Bahn lizenzierten Zeitschriftenhändler oder in die Apotheke.

Den größten Ärger aber verursachen Verspätungen. Besonders betroffen sind Passagiere in den mehr als 100 Kilometer außerhalb Sydneys gelegenen Wohn- und Schlafstädten. Die Stadt Goulburn im Süden etwa mit mehr als 30 000 Einwohnern wird von Sydney Trains gerade mal mit drei Diensten pro Tag versorgt. Dass diese Züge fahrplanmäßig Sydney erreichen, nach einer langen Reise über ein veraltetes Netz, ist eher die Ausnahme als die Regel. Im Großraum Melbourne sind Wartezeiten am Busbahnhof von bis zu einer halben Stunden keine Ausnahme. Und das bei den "höchsten Transportpreisen aller australischen Städte", wie viele schimpfen.

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Experten sagen, all das liege an der nicht vorhandenen Verkehrsstrategie. Eine solche auszuarbeiten, ist Aufgabe der einzelnen Bundesstaaten. Viele Politiker messen dem Ausbau des Nahverkehrs aber geringe Bedeutung zu. Denn der Bau einer Straße bringt mehr Wählerstimmen als eine neue Bahnstation. "Regierungen aller politischen Richtungen landesweit haben die Bedürfnisse der Nutzer der Nahverkehrssysteme jahrzehntelang vernachlässigt", sagt Bob Nanva von der zuständigen Gewerkschaft. Auch politische Ideologie spielt mit: Bau und Ausbau von öffentlichen Diensten steht diametral zur strikten, neoliberalen Grundhaltung der konservativen Bundesregierung. Der frühere Premierminister Tony Abbott ist als jener Regierungschef in die Geschichte eingegangen, der neuen Nahverkehrsprojekten die Mittel entzog - zugunsten des Ausbaus der Straßen und der Förderung des Privatverkehrs. Der Staat solle den Bau von Bus- und Bahninfrastruktur der Privatindustrie überlassen, so die Meinung.

Vorstädte wie Krebsgeschwüre

Wie lange jüngere Verkehrsteilnehmer dies noch tolerieren werden, ist fraglich. Der Druck auf die Politik, eine gute öffentliche Verkehrsinfrastruktur zu schaffen, wächst. Schon heute fahren 51 Prozent der 18- bis 24-Jährigen mindestens einmal pro Woche mit dem Nahverkehrszug. Dies nicht unbedingt, weil sie wollen, sondern weil sie es müssen. Als Folge der horrend hohen Immobilienpreise in allen australischen Großstädten muss eine wachsende Zahl von jüngeren Australiern in die Vororte ziehen, um sich eine einigermaßen bezahlbare Wohnung leisten zu können.

Nur mehrere Fahrstunden von der City entfernt sind solche "Project Homes" überhaupt noch bezahlbar - in aus Tausenden Häusern bestehenden Schlafstädten. Wie metastasierende Krebstumore fressen sie sich immer weiter in die Landschaft. Wo vor Kurzem noch Kühe weideten, stehen nun Häuser mit meist absurd großen Autogaragen. Denn eine nahe gelegene, zuverlässige und komfortable Bus- oder Bahnverbindung in die Stadt gibt es fast nie - sie war noch nie geplant.

Nicht dass es in Australien an Visionen für ein modernes Verkehrssystem fehlen würde. Vorschläge für einen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Brisbane, Sydney, Canberra und Melbourne gibt es seit Jahrzehnten. Den Bedarf ebenso: Mit täglich mehr als 20 000 Passagieren gehört die Flugstrecke Sydney - Melbourne zur frequentiertesten der Welt. Millionen Menschen in ländlichen Gebieten würden von der Möglichkeit profitieren, günstiger wohnen und trotzdem in der City arbeiten zu können. Den Willen, solche Pläne umzusetzen, hatte bisher aber kein Politiker. Auch willige Finanziers scheiterten am vielleicht größten Problem, das die australische Politik dominiert: Kaum ein Volksvertreter ist noch bereit, über den nächsten Wahltermin hinauszudenken.

Die SZ berichtet in dieser Serie in loser Folge über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen unter www.sz.de/nahverkehr

© SZ vom 23.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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