Radsport:Lieber Angst und Stoßgebete als Scheibenbremsen

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Immer mehr Hersteller rüsten Rennräder mit Scheibenbremsen aus. Scott bietet das Foil Premium Disc mit dieser Technik an - für 11 999 Euro. (Foto: GaudenzDanuser.com)
  • Mit hydraulischen Scheibenbremsen lassen sich Fahrräder kontrollierter verzögern, gerade aus hohen Geschwindigkeiten.
  • Trotzdem setzen sie sich bei Rennrädern noch nicht durch.
  • Rennradfahrer haben weiterhin Vorbehalte und führen meist das höhere Gewicht und die etwas schlechtere Aerodynamik als Minuspunkte an.

Von Sebastian Herrmann

Das Leben eines Rennradfahrers hängt oft am eisernen Faden. Etwa in den Alpen auf einer Abfahrt vom Timmelsjoch ins Ötztal in Tirol - nach einigen Serpentinen führt die Straße für einen längeren Abschnitt schnurgerade bergab, das Rad nimmt Tempo auf. Ein Blick auf den Tacho und Adrenalin flutet den Körper: Die Geschwindigkeit liegt bei etwas mehr als 100 Kilometern pro Stunde. Der Radler greift in die Bremsen, richtet Stoßgebete an sein Material und bangt, ob die dünnen Züge aus Drahtgeflecht halten.

Alltagssituationen im Stadtverkehr sind zwar mit Sicherheit gefährlicher, doch die Geschwindigkeit einer Abfahrt jagt einem manchmal Angststöße durch den Körper. Ist die Furcht verweht, taucht die Frage auf: Weshalb haben sich eigentlich hydraulische Scheibenbremsen am Rennrad noch nicht durchgesetzt? Damit ließe sich so ein Temporausch doch viel kontrollierter erleben.

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Es scheint tatsächlich nur mehr eine Frage der Zeit zu sein, bis sich hydraulische Bremsen auch am Rennrad etablieren. Wer sich umhört, dem wird diese Ansicht reihenweise kundgetan und dem werden immer wieder die Vorteile geschildert. "Man hat im Nassen ein viel besseres Handling", sagt Marcel Kittel, "man kann die Kraft besser dosieren und gleichmäßiger bremsen." Der Sprinter war einer der wenigen Profis, die bei der Tour de France 2017 mit der Technik am Rad unterwegs waren - und er ist der erste Radsportler, der mit Scheibenbremsen eine Etappe gewinnen konnte. "Das ist die Zukunft, dem kann man sich nicht verschließen", sagt Kittel. Auch andere Profis wie der Weltmeister Peter Sagan haben sich für die Scheiben ausgesprochen. "In ein paar Jahren wird das Standard sein", glaubt Michael Adomeit, Entwickler beim Radhersteller Canyon.

Dennoch treffen die Bremsen auf Vorbehalte. Von Verletzungsgefahr bei Stürzen war die Rede. Es wird orakelt, dass es im Peloton, dem Fahrerfeld, häufiger krachen könnte, wenn Fahrer mit verschiedenen Bremssystemen unterwegs seien, die unterschiedlich verzögern. Bei genauer Betrachtung verpuffen die Einwände: Auch an einem Rad ohne Scheibenbremsen befinden sich scharfe Bauteile wie die Zahnkränze an der Kurbel. Und wer mal mit Carbonlaufrädern mit Felgenbremsen gefahren ist, weist das Argument der unterschiedlichen Verzögerung von sich: Bei Nässe sind diese kaum zu dosieren, die Beläge rutschen erst wirkungslos über die Flanken, um dann plötzlich zu verzögern.

Längst etabliert bei Mountainbikes und im Cyclocross

Die Vorbehalte speisen sich aus anderen Quellen. "Rennradler haben konservative Ansichten, was ihr Material angeht", sagt Rainer König vom Radhersteller Stevens. Am Mountainbike sind die Bremsen seit mehr als zehn Jahren Standard und auch im Cyclocross haben sie sich etabliert. Seit etwa fünf Jahren rasen die Profis dieser Radsportspielart damit auf geländetauglichen Rennrädern durch den Matsch. Unter Rennradfahrern herrscht hingegen Skepsis gegenüber neuer Technik. Als einst die ersten Gangschaltungen eingeführt wurden, schmähten viele diese als Hilfsmittel für Weichlinge - bis damit Rennen gewonnen wurden. Ähnlich als Shimano und später andere Hersteller die elektronische Schaltung präsentierten. Es wurde gejault und die Nase gerümpft - und heute sind sie irgendwie akzeptiert.

Vor allem Hobbyradler, die auf gewichtsreduzierte Edel-Rennräder stehen, lehnen Scheibenbremsen ab. Die Technik bringt ein paar Gramm mehr auf die Waage; für Leute, die das Gewicht ihres Sattels bis auf die Nachkommastelle kennen, gleicht das einem Sakrileg. So verkaufen die Radhersteller bisher vor allem Marathon-Rennräder mit Scheibenbremsen. Diese Modelle sind für Langstrecken optimiert, die Sitzposition etwas aufrechter. Man könnte sagen: Es sind Vernunftrennräder, wenn diese Kategorie überhaupt zulässig ist.

Wer nun die Modelle der kommenden Saison betrachtet, sieht einen kleinen Trend. Die Industrie müht sich, Scheibenbremsen sexy und begehrenswert zu machen und rüstet ihre Top-Modelle mit den Scheiben aus, über die die Zielgruppe bislang noch abfällig spricht. Scott hat zum Beispiel - wie auch Specialized, BMC und andere Premium-Anbieter - so ein Rad im Programm, das man wohl vor allem als Marketingmaßnahme begreifen muss. Das Scott Foil Premium Disc soll unfassbare 11 999 Euro kosten. Auf die Frage, wer so ein Rad kauft, könnte man die Antwort geben: sehr wenige, sehr wohlhabende Menschen - aber es geht wohl sowieso mehr darum, die Scheiben als Premium-Accessoir zu etablieren und die Zwänge zu erklären, welche die Bremsen mit sich bringen.

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Scheibenbremsen erhöhen das Gewicht eines Rades leicht - und so führt die Industrie nun Aerodynamik als Verkaufsargument ins Rennen. Auf diese Weise lässt sich rechtfertigen, warum das monsterteure Foil etwa 7,4 Kilogram wiegt, wo andere Räder dieser Preisklasse mitunter die Fünf-Kilogramm-Marke unterbieten. Also Aerodynamik statt Federleichtbau: Bei Scott haben sie am Foil Premium Carbonelemente an der Gabel, die den Luftstrom um die aerodynamisch eher ungünstigen Bremsscheiben leiten. Das mag Profis entscheidende Zehntelsekunden im Zielsprint bringen, für Hobbyfahrer ist das eher irrelevant, trägt aber zu dem Gefühl bei, auf einem irgendwie geilen Rad zu sitzen.

"Am Ende geht es um die Ästhetik"

Für die Industrie geht es auch darum, künftige Standards zu setzen. "Wenn man heute ein neues Rad entwickelt, entwirft man das dann für zwei Bremssysteme?", fragt Ingenieur Adomeit. Ein Rahmen braucht Gewinde für die Scheibenbremsen, die Räder können mehr Freiheit bekommen, so dass breitere Reifen aufgezogene werden können. Felgenbremsen passen dann aber keine an den Rahmen, der müsste extra entworfen werden. Es könnte also passieren, dass die Hersteller neue Rahmen bald nur mehr für Scheibenbremsen entwickeln. Die Kunden haben dann wiederum das Problem, dass alte Technik nicht mehr mit neuen Rädern kompatibel ist und sie viel neues Zeug kaufen müssen.

"Am Ende geht es um die Ästhetik", sagt König, "man muss sich daran gewöhnen." In einigen Jahren werden Scheiben an Rennrädern völlig normal aussehen. Und hoffentlich hat die Industrie den Bremsen dann auch die letzten Mängel genommen: Wenn es nämlich nass und sehr kalt ist, dann jaulen selbst die Top-Modelle mancher Komponentenhersteller dermaßen laut, dass sie kaum mehr zu gebrauchen sind. Fast immer aber bremsen sie deutlich kontrollierter als die alten Modelle.

© SZ vom 02.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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