Elektroauto-Hersteller Nio:Ein E-Auto-Start-up, irgendwo zwischen Apple und BMW

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So stellt man sich bei Nio die Zukunft vor: Die Studie "Eve" fällt durch eine große seitliche Schiebetür auf. (Foto: Nio)

Mit viel chinesischem Geld will der Elektroauto-Hersteller Nio die Autowelt erobern. Der Chefdesigner hat hohe Ziele und will "an der Spitze bei allem sein, was wir machen".

Von Joachim Becker

Hinterhofgarage, bescheidene Anfänge als Start-up und ein langer Weg zum Ruhm. Man kennt diese Art von Legendenbildung. Nio ist anders. Ohne Mut und eine Prise Größenwahn bräuchte man in einer Traditionsbranche wie der Autoindustrie auch gar nicht anzutreten: "Da draußen gibt es viele gute Autodesigner und viele faszinierende Modelle. Also müssen wir mehr tun als das. Wir müssen an der Spitze bei allem sein, was wir machen", stellt Kris Tomasson ganz nüchtern fest.

Der 52-Jährige hat eine bewegte Geschichte als Designer hinter sich. Jetzt soll er einen Champion von einem weißen Blatt Papier aus entwerfen: "Das kann herausfordernd sein", gesteht Kris Tomasson, "in den ersten beiden Monaten habe ich nur Autos gezeichnet." Damals bestand die ganze Firma lediglich aus zwölf Leuten. Im Juli 2015 trafen sie sich zu einem Gründungs-Workshop in London: Damals wurden die Nio-Kernwerte definiert, obwohl es den Markennamen noch gar nicht gab.

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Zu Nios Geldgebern gehören Tech-Unternehmen wie Tencent (Wechat) und der Handyhersteller Xiaomi. Die treibende Kraft ist aber der Milliardär William Li. Der 43-Jährige ist einer der ehrgeizigsten Gründer in China. Er hat dort eine der ersten Internetfirmen aufgebaut. Als Elon Musk des Ostens will er jetzt auch die Art ändern, wie die Kunden Autos erleben.

Nio bezeichnet sich selbst als "globales Start-up". Die Konzernmutter Next EV kommt zwar aus China. Doch die neue Automarke ploppt auf drei verschiedenen Kontinenten gleichzeitig aus dem Boden: Die Zentrale in Shanghai, das Entwicklungszentrum im Silicon Valley und das Kreativzentrum in München. Vor zwei Jahren konnte man den Nio-Chefdesigner regelmäßig in der Münchner Szenekneipe "Reitschule" treffen. Bevor er ein Büro fand, arbeitete Kris Tomasson dort an den Grundlagen künftiger Elektroautos: Formensprache, Modellpalette und Markenpositionierung. Mittlerweile ist sein Kreativteam auf 120 Köpfe angewachsen und residiert in ausgedehnten, luxuriösen Bürolandschaften mitten in Bogenhausen. Die Nobeladresse ist Programm: Hier startet kein Geringerer als der Herausforderer von Audi, BMW, Mercedes und Tesla.

Zeitgleich mit Chris Bangle bei BMW

Eine Marke vom weißen Blatt Papier aus entwerfen? Das ist ein Traumjob für Kreative, die sich und ihren Arbeitsalltag ständig neu erfinden wollen. Kris Tomasson ist so ein Grenzgänger. Geboren in New York, Designstudium in Kalifornien, prägende Erfahrungen in Europa. Zeitgleich mit Chris Bangle hat er 1992 bei BMW angefangen: Bangle als Leiter des Designs, während Tomasson an experimentellen Fahrzeugen wie dem überdachten Roller C1 arbeitete. Beiden gemeinsam ist nicht nur die amerikanische Herkunft, sondern auch der häufige Wechsel zwischen der Produktgestaltung und dem hoch spezialisierten Autodesign. Tomasson hat im Silicon Valley elektronische Endgeräte entworfen und bei Gulfstream Aerospace die Formgebung der Luxusjets geleitet. 2014 kehrte er als Leiter Exterieur Design zu BMW zurück. Er blieb nur ein Jahr, bevor ihn die nächst größere Aufgabe lockte.

In der Markenpositionierung soll sich Nio irgendwo zwischen Apple und BMW einordnen: "Freude ist unser zentrales Mantra. Das gilt für alle Berührungspunkte zwischen der Marke und dem Kunden", erklärt Kris Tomasson. Wie man ein Auto kauft, es betankt oder mit ihm im Innenraum interagiert: Alles soll zu einem smarten, Design-getriebenen Gesamterlebnis werden. "Freude kann sich auf viele verschiedene Arten ausdrücken", betont der Chefgestalter: Es müsse nicht unbedingt Luxus sein, manchmal genügten ganz einfache Dinge zum Glücklichsein. Ein ruhiger Platz zum Erholen oder Musikhören zum Beispiel. Was auf den verstopften Straßen von Chinas Metropolen natürlich doch der ultimative Luxus ist.

Wirklich neu lässt sich das Autoerlebnis erst mit dem autonomen Fahren denken. Das hat Nio mit der Eve-Studie vor wenigen Monaten gezeigt. Statt auf der Automesse in Shanghai landete das Design-Ufo bereits im März auf der South by Southwest. Die Trendmesse in Austin, Texas bringt Kreative, Politiker, Zukunftsforscher und Technikfreaks zusammen. Ein idealer Platz also, um Mobilität in visionärer Form unter einer neuen Marke zu präsentieren. Mit einem ausgefallenen Innenraumkonzept erregte Eve weltweit Aufsehen: Eine Lounge-Landschaft zum Lümmeln, Schlafen oder Arbeiten. Der perfekte Kokon mit einem anschmiegsamen Interieur. Der rollende Wohlfühlraum sieht verspielter, flexibler und bequemer aus als zum Beispiel die futuristische Mercedes-Flunder F0 15 mit ihren drehbaren Schalensitzen für alle Passagiere.

Mit einem Schlag katapultierte sich Nio in die Spitzengruppe der chinesischen Herausforderer. Jetzt müssen die Newcomer allerdings zeigen, wie viel von dem relaxten Fahrgefühl sie in die Serie retten können. Mercedes fixiert die Passagiere auf ihren Sitzen, um sie bei einem Unfall besser schützen zu können. Der erfahrene Designer Tomasson kennt die zahllosen technischen Vorschriften rund ums Auto. Ist Eve also nur Showdesign, um Aufmerksamkeit zu erregen? 2019 bringt Nio erst einmal ein großes und ziemlich konventionelles Elektro-SUV auf den Markt: Der ES8 erinnert mit seinem zurückgesetzten großen Glashaus ein wenig an den Range Rover. Eine Designrevolution ist er jedenfalls nicht, eher das Pflichtprogramm für den raschen Markterfolg. Eve ist dagegen die Kür, um an Tesla vorbeizuziehen. Mit einer mutigeren Formensprache, als man sie von den Kaliforniern kennt.

Laufen die Chinesen in eine unlukrative Luxusfalle?

Kris Tomasson ist kein Berufsrevolutionär wie Chris Bangle. Aber er bringt Erfahrungen mit, die für einen Chefposten in der Autobranche durchaus ungewöhnlich sind. Nicht nur aufgrund der fliegenden Hightech-Wohnzimmer bei Gulfstream Aerospace. Auch als Designchef von Coca-Cola hat Tomasson viel über Markenführung gelernt. Schließlich verkauft die Brausefirma nicht zuletzt ein Lebensgefühl. Genau das will ja auch das Start-up in einer reifen Industrie schaffen: "Wir müssen an der Spitze des Designs stehen. Damit meine ich nicht nur Autodesign, sondern auch die Mensch-Maschine-Schnittstelle, den Kundenkontakt im Handel, das Webdesign und schlussendlich die ganze Marke: Ich kann hier alles einbringen, was ich in meiner Karriere gemacht habe."

Es geht also nicht primär um die Freude am Fahren - die sich in verstopften Metropolen ohnehin selbst ad absurdum führt. Das Auto wird Teil eines größeren Ökosystems rund um den Kunden. Die Frage ist allerdings, wie der Mix aus Elektromobilität, autonomem Fahren und individualisierten Services am Ende wirklich aussieht. Auch die deutschen Premiummarken arbeiten mit Hochdruck an dieser neuen Mobilitätserfahrung. Der Hype erinnert an die Aufbruchstimmung zu Beginn des neuen Jahrtausends. Damals wurde die Mobilität der Zukunft oft mit Luxus gleichgesetzt. Auch ein Massenhersteller wie Ford wollte den Durchbruch in die Oberliga schaffen. Dazu hatten die Amerikaner Jaguar, Land Rover und Volvo gekauft.

Kris Tomasson gehörte zu dem Team, das Fords neue Premiumsparte am kreativen Hotspot London aufbaute. Doch das Edel-Start-up verbrannte so lange Geld, bis Ford die Notbremse zog. Auch das Lifestyle-orientierte Ingeni Designstudio in Soho wurde wieder abgestoßen. Laufen jetzt die Chinesen in eine ähnlich unlukrative Luxusfalle? Faraday Future scheint als erstes Start-up mit seinen hoch fliegenden Plänen für kaum bezahlbare Elektroautos zu scheitern. Andererseits zeigt der Erfolg von Jaguar und Land Rover im indischen Tata-Konzern und Volvos Blüte unter der chinesischen Mutter Geely, dass asiatische Großkonzerne die Traditionsmarken sehr wohl an die Spitze führen können. Alles eine Frage von Geld, Geduld und Feingefühl.

© SZ vom 01.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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