Erdbeben in Afghanistan:Eine Katastrophe epischen Ausmaßes

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Die Menschen wurden von dem Erdbeben im Schlaf überrascht, viele Häuser sind zerstört. (Foto: Uncredited/dpa)

Mehr als 1000 Menschen sind bei dem Erdbeben ums Leben gekommen, mehrere Hundert warten auf Versorgung. Doch seit die internationale Gemeinschaft Afghanistan verlassen hat, fehlt es in den Krankenhäusern an allem.

Von Tobias Matern

Er bemüht sich, ruhig zu bleiben, aber immer wieder bricht seine Stimme ab, muss er das Telefonat kurz unterbrechen. "Es tut mir leid", sagt Ziaulhaq Wazirzai dann, atmet tief durch, setzt wieder an. Wazirzai arbeitet für die Handelskammer von Paktika im Osten Afghanistans, nebenbei ist er in einer privaten Hilfsorganisation aktiv, wie er berichtet. Als seine Provinz in der vergangenen Nacht von einem Erdbeben heimgesucht wurde, war Wazirzai in Kabul, etwa 200 Kilometer entfernt vom Epizentrum. Er kennt viele der Familien, die Angehörige verloren haben. "Die Menschen sind im Schlaf überrascht worden, sie hatten keine Zeit zu fliehen", sagt er und bricht wieder für ein paar Sekunden ab.

Es ist eine Katastrophe epischen Ausmaßes: Mindestens 1000 Tote sind nach dem Erdbeben mit einer Stärke von bis zu 6,1 nach offiziellen Angaben zu beklagen. Taliban-Anführer Hibatullah Achundsada sagt, er gehe davon aus, dass die Zahl der Opfer noch steigen werde. Mehr als 1500 Menschen sind verletzt worden, neben Paktika ist auch die Provinz Chost betroffen. Sogar in der gut 400 Kilometer entfernten pakistanischen Hauptstadt Islamabad waren die Erschütterungen des Bebens noch deutlich zu spüren. "Es war mitten in der Nacht und hat hier Panik ausgelöst", berichtet ein Bewohner der SZ am Mittwoch in einer Textnachricht. "Die Menschen sind voller Angst auf die Straßen gerannt, manche haben geschrien. Es hat etwa eine halbe Minute gedauert." Nach offiziellen Angaben gibt es noch keine Erkenntnisse über Opfer auf pakistanischer Seite.

(Foto: Karte: saru; Mapcreator.io)

Ein Augenzeuge berichtete der Deutschen Presse-Agentur von der Zerstörung in den betroffenen Gebieten. "Überall herrscht ein großes Chaos. Ich habe in einer Stunde hundert Leichen gezählt", sagte der Journalist Rahim Chan Chushal. "Das Grauen ist groß. Die Eltern können ihre Kinder nicht finden und die Kinder ihre Eltern nicht. Jeder fragt sich, wer tot ist und wer lebt. Die Häuser sind aus Lehm, und deshalb wurden sie alle durch die starke Erschütterung zerstört."

Ziaulhaq Wazirzai hofft nun, dass schnell Hilfe in die betroffene Region gelangt. Er habe 20 Mitarbeiter seiner privat betriebenen Hilfsorganisation im Katastrophengebiet dort im Einsatz. Vier Distrikte Paktikas seien besonders schwer betroffen, nach Berichten seiner Mitarbeiter seien zehn Dörfer verwüstet. Es mangele an allem, Decken, Nahrung, aber vor allem an Medikamenten und Verbandsmaterial, um die Verletzten versorgen zu können. Dann schickt er Videos und Fotos, die ihm zufolge aus seiner Heimat kommen und verletzte Menschen zeigen, die unter freiem Himmel behandelt werden, Häuser, die komplett eingestürzt sind. "Die Bestände in den Krankenhäusern sind seit dem Abzug der internationalen Gemeinschaft leer", sagt Wazirzai. "Wir brauchen jetzt dringend Hilfe. Ich flehe Sie an."

Im August war die internationale Gemeinschaft nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan gedemütigt abgezogen - die Taliban hatten nach und nach das Land wiedereingenommen, auch die Hauptstadt Kabul gestürmt und die vom Westen unterstützte Regierung aus dem Amt gejagt. Das Verhältnis der islamistischen Führung in Kabul zu den USA und den anderen westlichen Verbündeten ist angespannt. Denn die Taliban unterlaufen zahlreiche Bedingungen für eine Kooperation: So haben die religiösen Hardliner in Kabul wieder damit begonnen, Frauen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, auch dürfen nicht mehr alle Mädchen landesweit in die Schule gehen. Vieles erinnert an die erste Schreckensherrschaft der Taliban in den Jahren 1996 bis 2001, als sie schon einmal in Afghanistan an der Macht waren. Das Land am Hindukusch ist wieder auf dem Weg zum internationalen Paria.

Bilder aus Afghanistan
:"Überall herrscht ein großes Chaos"

Ein heftiges Erdbeben erschüttert eine abgelegene Bergregion an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Bilder aus der Region zeigen die Zerstörung.

Taliban bitten um Unterstützung

Die meisten Hilfsgelder, die der Westen bis zur Machtübernahme der Taliban gezahlt hatte, sind eingefroren. Ein Sprecher der Islamisten rief Hilfsorganisationen dazu auf, die Menschen in den betroffenen Gebieten zu unterstützen. Pakistans Premierminister Shehbaz Sharif drückte sein Mitgefühl aus und stellte Hilfe für die Menschen im Nachbarland in Aussicht. Erschwert werden die Bergungsarbeiten durch den schwierigen Zugang zur abgelegenen Bergregion. Die Taliban sandten Helikopter in die Region. Am Mittwoch trafen auch bereits Helfer des Roten Halbmonds ein.

Das Erdbebenüberwachungsnetz des United States Geological Survey (USGS) vermeldete für das Beben kurz vor 23 Uhr am Dienstag (Ortszeit) die Stärke 5,9 sowie ein etwas schwächeres Nachbeben, andere offizielle Stellen sprachen von einem Wert von 6,1. Demnach befand sich das Zentrum des Bebens rund 50 Kilometer südwestlich der Stadt Chost nahe der Grenze zu Pakistan. Marco Pilz, Seismologe am Deutschen Geo-Forschungs-Zentrum Potsdam (GFZ) sagte, da das Beben nur sieben bis zehn Kilometer unterhalb der Erdoberfläche ausgelöst worden sei, hätte es solch massive Verwüstungen anrichten können. Auch habe es eine überdurchschnittliche Anregung höherer Frequenzen mit etwa zehn Schwingungen pro Sekunde gegeben. Hinzu komme die schlechte Bausubstanz der Häuser und die weiche Beschaffenheit des Bodens.

Papst Franziskus betete in Rom für die Opfer. "Ich drücke den Verletzten und denen, die vom Erdbeben betroffen sind, meine Nähe aus", sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche am Mittwoch.

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