Epigenetik:Konterrevolution der Darwinisten

DNA

DNA-Stränge enthalten den Bauplan der Organismen. Über die Epigenetik kann die Umwelt Einfluss darauf nehmen, wie er gelesen wird.

(Foto: Imperial College London)

Was Eltern erleben, kann an ihre Kinder vererbt werden, behaupten Verfechter der Epigenetik. Beobachten wir eine Revolution in der Biologie - und eine Abkehr von der Evolutionstheorie?

Von Markus C. Schulte von Drach

Seit einigen Jahren geistert ein Begriff durch die Medien und Fachpresse, der für bahnbrechende Erkenntnisse von Biologen und Medizinern stehen soll: Epigenetik. Häufig wird von einer "Revolution" oder einem "Paradigmenwechsel" gesprochen, oder davon, dass Lehrbücher umgeschrieben werden müssten. An Universitäten taucht die Epigenetik als Fach immer häufiger auf, Lehrstühle tragen ihn inzwischen im Namen. Aber es gibt auch Zweifel daran, dass die neuen Erkenntnisse tatsächlich so bahnbrechend sind. Haben wir es vielleicht nur mit einem Hype zu tun?

Tatsächlich wirken die Ergebnisse mancher epigenetischer Untersuchungen spektakulär: So sollen Erfahrungen, die Tiere oder Menschen im Laufe ihres Lebens gemacht haben, sich auf deren Nachwuchs auswirken können - und zwar manchmal sogar dann, wenn sie stattfanden, bevor der Nachwuchs gezeugt und ausgetragen wurde.

Erste Hinweise auf diesen Effekt beim Menschen beobachteten Wissenschaftler der Universität von Umeå anhand von Bevölkerungsregistern einer Provinz im Norden Schwedens: Enkel von Männern, die im 19. Jahrhundert unter Nahrungsmangel gelitten hatten, hatten eine etwas höhere Lebenserwartung als die von gut versorgten Großvätern.

Verschiedene Untersuchungen insbesondere der Universitätsklinik in Amsterdam konnten zeigen, dass Kinder von Müttern, die während des Hungerwinters (Hongerwinter) 1944/45 in Holland mit ihnen schwanger waren, ein erhöhtes Risiko für Übergewicht, Herzprobleme, Diabetes und andere Probleme besaßen und außerdem kleiner waren als der Durchschnitt.

Eine Untersuchung an Enkeln der Hungerwinter-Mütter zeigte dann, dass deren Söhne eher dicken Nachwuchs hatten. Die Erfahrung der Großmütter wirkte sich also sogar bis in die übernächste Generation aus. Für die Kinder der Töchter ließ sich ein solcher Effekt allerdings nicht nachweisen. Frühere Studien mit etwas anderen Ergebnissen hatten sich lediglich auf eine Befragung der Eltern gestützt und sollten deshalb vorsichtig interpretiert werden.

Erst im vergangenen Jahr berichteten Forscher vom Mount Sinai Hospital in New York, dass Kinder von jüdischen Holocaust-Überlebenden mit Posttraumatischer Stress-Störung nicht nur anfälliger für entsprechende psychische Probleme seien als andere Kinder. Auch die Aktivität eines bestimmtes Gens, das mit der Stressverarbeitung zusammenhängt, wies eine auffällige Regulation auf. In einer Vergleichsgruppe konnten die Effekte nicht beobachtet werden. Traumata würden an Kinder vererbt, meldeten viele Medien daraufhin.

Zu diesen Studien kommt eine ganze Reihe von Experimenten vor allem an Mäusen und Ratten, die etwa zeigen, dass gestresste Jungtiere später selbst Nachwuchs bekommen, der sich verhält, als hätte er selbst ebenfalls Stress erfahren.

Plötzlich ist Lamarck wieder im Gespräch

Spektakulär sind diese Ergebnisse, weil sie grundlegende Annahmen der Evolutionstheorie nach Charles Darwin infrage zu stellen scheinen. Dieser sagt vereinfacht ausgedrückt: Organismen bilden auf der Grundlage ihrer Gene bestimmte Merkmale aus. Durch Mutationen können unter dem Nachwuchs veränderte oder neue Merkmale auftreten, die über die Gene dann an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Erweist sich eine solche Veränderung in einer bestimmten Umwelt für ihren Träger als Vorteil, breiten sich die betreffenden Gene in einer Population eher aus (Selektion). So können sich aus einer Spezies neue Arten entwickeln.

Doch durch die neuen Erkenntnisse taucht nun eine längst als überholt geltende Vorstellung wieder aus der Versenkung auf: Der Lamarckismus aus dem 19. Jahrhundert. Klassisches Beispiel ist die Giraffe. Deren langer Hals sollte sich dem französischen Wissenschaftler Jean-Baptiste Lamarck zufolge dem Strecken nach Blättern hoher Bäume verdanken. Der deshalb ein wenig verlängerte Hals der Eltern hätte sich dann auf die Jungen übertragen, die ihrerseits durch das Strecken weiter zugelegt hätten und so fort.

Buschmänner in der Kalahari

Giraffen haben ihren langen Hals nicht weil ihre Vorfahren ihn in die Höhe gestreckt haben, sondern weil dieses genetisch bestimmte Merkmal sich als vorteilhaft erwiesen hat

(Foto: dpa)

Spektakulär wirken die Erkenntnisse der Epigenetik auch, weil sie Eltern Verantwortung für ihren Nachwuchs in neuen Dimensionen aufzuladen scheinen. Denn wir müssen uns nun fragen, wie sehr unsere Kinder unter unserem Verhalten werden leiden müssen - etwa weil wir uns falsch ernährt, geraucht, Alkohol getrunken oder uns zu wenig bewegt haben. Dazu kommt, dass in der Diskussion "Gene oder Umwelt" (Nature versus Nurture) die Gene als Grundlage aller Eigenschaften an Boden verlieren, weshalb sich neben den Biologen auch Mediziner und Sozialwissenschaftler für die Epigenetik interessieren. So beschäftigt sich etwa die Krebs- und die Genderforschung mit dem Thema.

Was ist wirklich neu an der Epigenetik?

Doch mit der Begeisterung nimmt auch die Kritik an der Interpretation der wissenschaftlichen Studien und den Berichten darüber zu. Zum einen ist die Epigenetik als Forschungsgebiet nicht neu. Alles "jenseits der Gene" oder "um sie herum" (wie sich Epi-Genetik übersetzen lässt) untersuchen Wissenschaftler schon seit der Entdeckung der DNA unter dem Begriff Genregulation.

Schon lange ist klar, dass in spezialisierten Körperzellen nur ganz bestimmte Gene überhaupt aktivierbar sein dürfen und diese Festlegung an Tochterzellen "vererbt" wird. Nur so entstehen in einer wachsenden Leber ausschließlich weitere Leberzellen, und im Nervengewebe nicht etwa Muskelzellen, obwohl sämtliche Körperzellen grundsätzlich mit identischem Erbgut ausgestattet sind.

Dass die Ernährung oder andere Umwelteinflüsse die Gen-Expression - also das Lesen der Gene - bestimmter Körperzellen beeinflussen, ist ebenfalls schon lange klar. "Das Sandwich, das Sie gerade gegessen haben, hat die Gen-Expression ebenfalls geändert", schreibt etwa der britische Genetiker Adam Rutherford im Guardian.

Ohne langfristige Wirkung von Umwelteinflüssen auf die Genregulation wäre auch nicht vorstellbar, wie eineiige Zwillinge zu den unterschiedlichen Individuen heranwachsen können, die sie meist sind, oder wie frühkindliche Traumata zu einer Anfälligkeit etwa für Depressionen bei Erwachsenen führen könne.

Inzwischen sind auch einige an der Genregulation beteiligte Moleküle gut untersucht: die Histone, um die die DNA-Stränge gewickelt sind, Methylgruppen und bestimmte RNA-Moleküle. Das hat dazu geführt, dass sich für dieses Teilgebiet der Genregulation der Begriff Epigenetik durchgesetzt hat.

Überzeugende Ergebnisse in Modellorganismen

Relativ neu - und tatsächlich aufregend - ist allerdings die Beobachtung, dass epigenetische Regulierungen selbst das Erbgut in Eizellen und Spermien betreffen, die an den Nachwuchs weitergegeben werden können. Das ist eigentlich schwer vorzustellen, denn Geschlechtszellen werden "gesäubert": Epigenetisch wirksame Moleküle werden von der DNA entfernt, damit aus diesen Zellen im Embryo wieder alle verschiedenen spezialisierten Zelltypen entstehen können. Wie sollen erworbene Eigenschaften dann an kommende Generationen weitergegeben werden?

Wissenschaftliche Untersuchungen für Fettleibigkeit

Mäuse eigenen sich offenbar gut zur Untersuchung epigenetischer Vererbung

(Foto: ZB)

Seit Längerem wissen Forscher aber, dass Umweltfaktoren bei Pflanzen und manchen niederen Tieren genau dazu führen können. So steigt die Lebenserwartung bei Fadenwürmern der Art Caenorhabditis elegans durch bestimmte Eingriffe in ihre Genregulation. Der Effekt zeigt sich auch noch bei ihren Nachfahren bis in die dritte Generation, dann verschwindet er.

Die bereits erwähnten Experimente an Nagetieren haben gezeigt, dass auch bei ihnen epigenetische Vererbung über Generationen stattfinden kann. Gut belegt hat das etwa Isabelle Mansuy, Professorin für Neuroepigenetik an der Universität in Zürich. Ihr Team löste durch Stress bei jungen Mäusemännchen "depressives" Verhalten aus, das sich dann auch bei deren nicht gestresstem Nachwuchs zeigte. Dann entnahmen die Forscher den Spermien der gestressten Mäusemännchen bestimmte RNA-Moleküle (microRNAs), die an der Genregulation beteiligt sind, und spritzte sie in bereits befruchtete Eizellen fremder Weibchen. Die daraus hervorgegangenen Jungen verhielten sich ebenfalls, als wären sie gestresst worden - und ihr Nachwuchs ebenfalls.

"Es ist eine falsche Annahme, dass während der Entwicklung das ganze Genom gesäubert wird", sagt Mansuy. "Für viele Gene wird das epigenetische Profil gelöscht, aber nicht für alle." Die Idee der Reprogrammierung sei fälschlich verallgemeinert worden. "Das ist ein großes konzeptuelles Problem, das den Fortschritt in der Biologie gebremst hat, weil viele Menschen zu Unrecht glaubten, Gene würden alles machen, und den Einfluss der Umwelt ignorierten."

Trotz solcher überzeugenden Studien bleiben unzählige Fragen zu den Mechanismen epigenetischer Vererbung über Generationen hinweg offen. Und bei manchen der beobachteten Effekte, etwa Depression oder Übergewicht, ist schwer vorstellbar, dass sie einen evolutionären Vorteil haben könnten.

Immerhin sind nicht alle epigenetischen Effekte nachteilig, sagt Mansuy. "Einige Ernährungsweisen früh im Leben können die Gesundheit und Lebenserwartung verbessern. Und auch traumatischer Stress kann positive Verhaltensanpassungen gegenüber herausfordernden Situationen bewirken."

Zweifel an der Bedeutung für den Menschen

Eine Reihe von Wissenschaftlern bezweifelt allerdings, dass bei Menschen epigenetische Vererbung über Generationen tatsächlich stattfindet - trotz der Studien. Umso fragwürdiger ist es, wenn Studienergebnisse an Nagetieren in den Medien immer wieder dargestellt werden, als ließen sie sich auf Menschen übertragen.

Die Studie an den Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern etwa löste erhebliche Kritik aus. So wies Ewan Birney vom European Bioinformatics Institute im englischen Cambridge im Guardian auf "so viele Fehler" in der Arbeit hin, "dass sie es gar nicht erst bis zur wissenschaftlichen Veröffentlichung hätte schaffen sollen". So sei die Zahl der untersuchten Holocaust-Überlebenden mit 32 "absurd klein", die Kontrollgruppe war mit lediglich acht Personen noch kleiner und auch die Zahl der berücksichtigen Gene reichte Birney zufolge nicht aus.

Auch der Evolutionsbiologe Jerry Coyne von der University of Chicago und der Genetiker John Greally vom Center of Epigenomics am Albert Einstein College of Medicine in New York legten umgehend und ausführlich dar, wieso sie so überhaupt nichts von der Studie halten. (Eine umfassende Darstellung ihrer Kritik auf Deutsch hier)

"Ich denke, wir müssen offen für die Idee sein, dass es Generationen übergreifende Vererbung gibt, die von etwas anderem vermittelt wird als von der DNA-Sequenz", sagte Greally der SZ. "Aber bislang gibt es keine Beweise für dieses Phänomen beim Menschen."

Steven Henikoff, der am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle Genregulation erforscht, ist ebenfalls skeptisch: "Ich nehme diese Studien nicht ernst, weil in keiner streng genug getestet wurde." Außerdem ließen sich die Ergebnisse immer leichter auf konventionelle Weise erklären. So wiesen etwa die Autoren der Studie zu den Enkeln der niederländischen "Hongerwinter"-Mütter ausdrücklich darauf hin, dass die von ihnen gefunden Effekte auf Umweltfaktoren zurückgeführt werden könnten. Henikoff zufolge könnten dahinter etwa schlechte Ernährungsgewohnheiten der Eltern stecken, die sich auch auf ihre Kinder ausgewirkt hätten.

Wichtige medizinische Erkenntnisse erwarten diese Wissenschaftler vorerst nicht von der epigenetischen Forschung. Greally zufolge leiden die meisten Studien, die versuchen, Krankheitsursachen im Epigenom zu finden, "an etlichen Problemen in Design und Durchführung, die ihre Interpretierbarkeit stark beeinträchtigen", stellte er kürzlich gemeinsam mit Ewan Birney und George Davey Smith von der University of Bristol im Fachmagazin Plos Genetics fest. So sei es etwa schwierig, eindeutig zu bestimmen, ob der Zustand einer untersuchten epigenetischen Regulierung tatsächlich eine mögliche Ursache oder doch Folge einer Krankheit ist.

Henikoff kann sich darüber hinaus "keinen Weg vorstellen, wie man ohne Experimente an Menschen - die sich schließlich verbieten - feststellen will, was Natur und was Umwelt ist." Seiner Meinung nach ist es schon schwierig genug, überzeugend zu zeigen, ob eine bestimmte Ernährung Vor- oder Nachteile hat, trotz epidemiologischer Studien. Wie viel schwieriger dürfte sei es dann sein, zu zeigen, dass ein Verhalten auch Effekte auf zukünftige Generationen hat. "Stellen Sie sich einen randomisierten klinischen Versuch vor, um etwa zu prüfen, ob Butter gut oder schlecht ist für Ihre Enkel und Ur-Enkel."

Isabelle Mansuy dagegen betont die Möglichkeiten der Epigenetik zum Verständnis von Krankheiten und deren Behandlung. "Das Gebiet wird neue Fortschritte ermöglichen. Beim Krebs hat sie das schon getan." So stünden dank epigenetischer Erkenntnisse etwa die Medikamente 5-Azacytidin und Decitabin zur Verfügung, die vor allem bei Patienten mit Myelodysplastischem Syndrom (MDS) eingesetzt werden, einer Vorstufe der Leukämie. Die Substanzen heben die Blockade bestimmter Gene auf, wodurch sich die Lebenserwartung um einige Monate erhöhen lässt.

Revolution oder nicht?

Haben wir es also nun mit einer Revolution oder einem Paradigmenwechsel in der Genetik zu tun, und ist Lamarcks Idee wiederauferstanden? "Ich denke, es ist ein revolutionäres Gebiet", sagt Mansuy. "Die Bedeutung der epigenetischen Vererbung ist ein extrem wichtiges Phänomen."

Ihrer Meinung nach ist sie auch für die Evolution essentiell, da sie rasche Anpassung an die Umwelt erlaube. Langfristig seien vielleicht Veränderungen im Genom notwendig. "Aber auch einige epigenetische Veränderungen können stabil und permanent sein. Und es gibt eine Theorie, der zufolge epigenetische Veränderungen wiederum genetische Veränderungen auslösen können - und so einen Beitrag zur klassischen Evolution leisten."

Molekularbiologe Henikoff aus Seattle dagegen rechnet zwar mit neuen Einsichten in die Biologie. "In Bezug auf manche Pflanzen oder einfache Tiere können die Erkenntnisse sogar revolutionär sein." Aber für die Biologie insgesamt "gibt es da keine Revolution". Auch Lamarcks Theorie werde nicht wieder auferstehen. "Im Großen und Ganzen können wohl nur Mutationen im Erbgut selektiert werden, aber keine Epimutationen, die nur die Regulation betreffen. Und das ist Darwinismus."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: