Deutschlands nächster Astronaut:Unser Mann da oben

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Im Europäischen Astronautenzentrum in Köln-Porz wird aus dem Geophysiker Alexander Gerst der nächste deutsche Raumfahrer. Er ist einer der sechs, die sich im Auswahlverfahren der Esa gegen 8413 andere Kandidaten durchgesetzt haben.

Jakob Vicari

In einer Konservendose wird Alexander Gerst aus Künzelsau zum Astronauten. "Corridor 13 good, six metres drifting", sagt Gerst und umklammert mit der kräftigen Hand ein Plastiklineal. Der 34-jährige Astronautenanwärter mit den wenigen blonden Haaren sitzt im blauen Overall vor einem Schwarz-Weiß-Monitor.

Üben für Arbeiten in der Schwerelosigkeit: Alexander Gerst im Schwimmbecken des Europäischen Astronautenzentrums (EAC) in Köln-Porz. (Foto: esa)

Mit dem Plastiklineal soll er auf dem Monitor überwachen, wie der Raumtransporter ATV an die Internationale Raumstation andockt. Sein Mund ist schmal, der Rücken gespannt, die Augen blicken starr auf den Monitor mit dem sich nähernden Raumtransporter. Es sieht nicht gut aus. Vor sich hat er als Steuerpult eine Art Registrierkasse.

Neben ihm sitzt sein Ausbilder Lionel Ferra. Dieser hält ein Heft mit Anweisungen in kyrillischer Schrift und eine rote Stoppuhr in der Hand. Neben dem Bildschirm liegt ein Radiergummi "Mars plastic", der dort nicht liegen bleiben würde, oben in 350 Kilometern Höhe an Bord der Internationalen Raumstation. Doch noch sitzen Gerst und sein Ausbilder in einer übergroßen weißen Konservendose in Köln-Porz im Europäischen Astronautenzentrum (EAC).

Gerst drückt den Knopf mit der Aufschrift "Retreat" und lässt den ATV-Transporter damit in den Weiten des Alls zurück. Der Ausbilder nickt, Gerst hat die Trainingseinheit bestanden. Gerst ist jetzt nicht mehr der Astronaut auf Mission, der akzentfreies Englisch spricht, voll konzentriert, der Bodenstation ergeben, sondern wieder der charmante Junge aus Künzelsau, der schwäbelt wenn er von seinem Traum und unseren Chancen im All erzählt. Er sagt dann "Aschtronaut" statt "Astronaut".

Sein Wunsch Astronaut zu werden brachte ihn nach Köln-Porz in die Halle, in der vier große weiße Dosen stehen, Durchmesser 4,50 Meter. Sie sind Nachbauten von Abschnitten der ISS. Innen sind sie karg, nicht so unordentlich bewohnt, wie auf den Bildern der Raumstation. An der Türschwelle der Module warnen Aufkleber vor dem Betreten mit Stöckelschuhen. Um den Nachbau des Columbus-Moduls führt ein kleiner Zaun, an dessen Pforte ein Schild daran erinnert, das Licht auszuschalten. Und zwischendrin sitzt Gerst und strahlt. Er befindet sich am Platz seiner Träume. Hier geht für ihn der Traum ganzer Jungen-Generationen in Erfüllung.

Gerst ist einer der sechs jungen Menschen, die sich im Auswahlverfahren der Esa gegen 8413 andere Kandidaten durchgesetzt haben. "Wenn ich nur nach der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre, wäre ich jetzt nicht hier", sagt Gerst. Die anderen fünf erfolgreichen Bewerber sind Kampfflieger und Flugingenieure. Gerst, der Deutsche, ist der einzige, der kein Flugzeug fliegen kann.

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Gerst hat sein Abitur in Öhringen gemacht, Zivildienst beim Roten Kreuz in Künzelsau, dann Geophysik in Karlsruhe studiert mit Schwerpunkt Vulkanologie. Ein ungewöhnlicher Weg, um Astronaut zu werden - er wäre der erste Geophysiker überhaupt, der ins All fliegt. In seiner Freizeit und während des Studiums ist er hinausgefahren aus der Provinz in die Welt, in die Antarktis, nach Indonesien, Äthiopien, Guatemala und Vanuatu, stets so weit, als würde er ihr Ende suchen.

Gerst (hinten) und sein Ausbilder Lionel Ferra, der ihm beibringt, wie man den Raumtransporter ATV an die Internationale Raumstation andockt. (Foto: esa)

Gerst läuft hinüber zur Luke, im All wird er den Weg schweben können. In der Raumstation führt die Luke zum Raumtransporter mit frischem Wasser, Nahrung, Luft und frischen Zahnbürsten. Gerst greift mit der Hand nach dem Hebel. Die Luke klemmt. Auf der ISS hieße das, abgeschlossen zu sein von den wichtigen Gütern, doch Gerst bleibt ruhig.

Er könnte jetzt einfach hinübergehen, die Treppe hinabsteigen und auf der anderen Seite wieder hinauf, doch das wäre gegen die Spielregeln. Auch im Training muss er die Situation ernst nehmen.

Er rüttelt und zerrt am Griff der Luke, nicht zu fest, denn jedes Teil ist teuer; aber auch nicht zu locker, denn es ist ihm ernst. Dann ruft er nach dem Ausbilder, doch der ist auf die Toilette gegangen. Gerst ist auf sich allein gestellt.

Es ist nicht lange her, da lag Gerst in einem Zelt in der Antarktis am Fuß des Vulkans Mount Erebus. Draußen tobte der Sturm. In solchen Stürmen war Robert Falcon Scott, der größte Abenteurer des 20. Jahrhunderts, beim Versuch umgekommen, den Südpol als erster zu erreichen.

Im Zelt lag Gerst, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geophysik der Universität Hamburg und träumte davon, als Raumfahrer an den größten Abenteuern des 21. Jahrhunderts teilzunehmen. "Da war ich 800 Kilometer umrundet vom Nichts", sagt Gerst. "Da ist man weiter weg vom Leben als auf der Raumstation."

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"Ich glaube, dass die Raumforschung ähnlich ist, wie es die Polarforschung vor 100 Jahren war", sagt Gerst. "Viele Leute auf der Erde haben sich gefragt: Warum machen die das eigentlich?" Für Gerst ist die Antwort eindeutig: "Wir hätten nie das Ozonloch entdeckt, wir hätten nie verstanden, wie unser Klima funktioniert. Wir würden jetzt noch FCKW in die Luft pumpen." Aber in der Antarktis sind heute viele Wissenschaftler unterwegs. Echte Pioniere können dort nichts mehr leisten. Gerst aber sagt von sich: "Ich bin ein Abenteurer."

Nur einmal im Jahr bekommt ein Europäer die Gelegenheit, zur Internationalen Raumstation fliegen, da braucht man nicht viele Astronauten. Die letzte Ausbildung von neuen Astronauten war 15Jahre her, und so recht wussten sie bei der Esa auch nicht mehr, wie man aus jungen Menschen heute Astronauten macht. Sie haben sie also stundenlang im tiefsten Wasserbecken Europas tauchen lassen, um die Schwerelosigkeit zu üben. Sie haben die Gruppe in eine Höhle gebracht und die Lampen ausfallen lassen. Sie haben ihnen Russisch beigebracht und Physik, Navigation und Medizin und immer wieder haben sie mit dem Plastiklineal den Raumtransporter angedockt. Irgendwann haben die Anwärter dann angefangen, sich Astronauten zu nennen.

Der verbreitete Astronautentyp ist der des unauffälligen und angepassten Menschen, denn Astronauten müssen im All auf engstem Raum möglichst reibungslos funktionieren. Da ist Gerst untypisch: Er ist kantig und selbstbewusst. Gerst ist auch ein Bastler. Als Junge hat er im Fernsehen die Serie um den verrückten Bastler MacGyver verfolgt, der mit Kaugummi und Taschenmesser jede Aufgabe lösen kann. Tatsächlich hat Gerst sich schon erkundigt, ob es auf der ISS auch sein liebstes Werkzeug, ein Leatherman-Tool gibt. Auf der ISS gibt es eins.

Aber jetzt im Nachbau vor der klemmenden Luke hat Gerst keins zur Hand. Die Luke geht so auf und Gerst kann hindurchkriechen. Er steht im Raumtransporter zwischen Regalen mit weißen Stoffbeuteln. Gerst steht jetzt lässig vor der geöffneten Luke und lässt sich fotografieren. Das schwierigste für Gerst, sagen Menschen, die ihn kennen, wäre dieses Gebundensein an die Bodenstation, statt selber entscheiden zu können, was zu tun ist. Er hat jetzt Autogrammkarten, der Playboy nennt ihn "Unser Mann da oben". Auf der Straße wird er bisher nur daheim in Künzelsau erkannt.

Aus Gerst ist ein Astronaut geworden, aber erst wenn er ins All fährt, wird er ein Held. Anfang November haben Gerst und die fünf anderen Anwärter ihre Astronauten-Zertifikate erhalten. Seitdem sind sie vollwertige Mitglieder des Europäischen Astronautenkorps. Bis ins Jahr 2015 ist der Betrieb der Raumstation gesichert, nicht mehr lange für einen frischgebackenen Astronauten, doch Gerst hat gute Chancen noch zu fliegen, denn er ist Deutscher und die Deutschen bestreiten 40 Prozent des Esa-Etats.

Seine Doktorarbeit über den Vulkan Mount Erebus hat er noch fertiggeschrieben in den Nächten, trotz Astronautentraining. Noch immer bekommt er jede Woche eine E-Mail, in der die Aktivität der Vulkane weltweit beschrieben wird. Der Astronaut Gerst sagt: "Der größte Vulkan des Sonnensystems befindet sich auf dem Mars. Da würde ich natürlich gerne hinfliegen."

© SZ vom 17.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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