Spartradition:Warum Deutschland trotz Niedrigzinsen unverdrossen weiter spart

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1983 wurde so für das Sparbuch geworben (Bild zum Weltspartag). Damals gab es dafür drei bis vier Prozent Zinsen, so das Archiv der Bundesbank. (Foto: dpa, Mauritius Images (2))

Zinsen? Gibt es nicht mehr. Die Deutschen sparen trotzdem weiter. So wollen es die Geschichte, die Mentalität und die Kultur. Doch ganz allmählich ändert sich etwas.

Von Hans von der Hagen, Lea Hampel und Markus Zydra

Schon der Vater von Willy Wehly führte seinem Sohn in den Dreißigerjahren die Bedeutung des Sparens vor Augen: "Meine Schwester Alwine bekommt 20 Reichsmark Rente - und davon spart sie 21 Reichsmark", pflegte er zu scherzen.

Heute, zwei Währungsreformen und Jahrzehnte deutscher Wirtschaftsgeschichte später, ist Wehly Mitte achtzig und sagt: "Ich habe das Sparen von klein auf gelernt." Immer wird ein Teil dessen, was man bekommt, zurückgelegt. So hat er es als Junge getan, so machte er es mit seinem ersten Lehrlingslohn, so hat er es gehalten, als er Manager beim deutschen Ableger des Rasiererhersteller Gillette war, so ist es noch heute. Keine Schulden, dafür ein Sparbuch, lautete das Ideal für ihn und Millionen Deutsche - und so gilt es oft immer noch.

Nach wie vor lieben die Deutschen das Sparen. Die schwäbische Hausfrau ist ein stehender Begriff, Sparschweine stehen in jedem Haushalt. Es reicht nicht, Geld abzuzweigen, es soll sicher und verfügbar sein, "immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel haben" nennt Wehly das. "Typisch für die Deutschen ist, dass die einfache Form des Sparens auf dem Sparkonto beliebt ist", sagt Thorsten Wehber, der für den Deutschen Sparkassen- und Giroverband das Finanzverhalten der Nation heute und einst erforscht.

Jeder zweite Deutsche hat noch ein Sparbuch. In diesen Zeiten ein Widerspruch?

Im Jahr 2010, als viele wegen der Finanzkrise in Panik gerieten, lagen knapp 700 Milliarden Euro auf den Girokonten. Nun sind es 1,1 Billionen Euro, 57 Prozent mehr. Peter Barkow, Unternehmensberater, hat diese Zahlen untersucht und festgestellt: "Die Deutschen haben in den letzten zwölf Monaten viermal so viel Vermögen in Tagesgeld gesteckt wie vor der Finanzkrise 2008."

Dabei stimmte lange das Sprichwort: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Viele leben heute von erspartem Wohlstand. Doch seit einigen Jahren besteht ein Problem: Klassisches Sparen lohnt sich nicht mehr.

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Ein Mosaik aus Geschichte, Mentalität und Kultur

Dabei entsteht ein wachsender Widerspruch. Zinsen von null Prozent, nicht mal mehr die Bundesanleihen bringen Rendite, trotzdem scheint das nur wenige abzuschrecken, im Gegenteil. Vielmehr gilt offenbar: Je weniger Zins es gibt, desto mehr wird gespart. Dabei ist es rational kaum zu erklären; die Inflation der Zwanzigerjahre und zwei Kriege, nach denen vor allem Sachwerte erhalten waren, sollten Lehre genug sein. "Nicht umsonst sprach man 1924 vom Sparwunder. Dass die Menschen das Geld nach der Hyperinflation wieder zur Sparkasse getragen haben und nicht zu Hause gehortet, ist schwer zu erklären", sagt Historiker Wehber.

Versucht man es trotzdem, tut sich ein Mosaik aus Geschichte, Mentalität und Kultur auf: das Bild einer Nation, die aus lauter Angst vor künftiger Unsicherheit derzeit ihre Zukunft aufs Spiel setzt.

Wissenschaftler Thorsten Hens, 54, ist Deutscher, ausgebildet in Bonn, heute Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Zürich. Er glaubt: "Der Spardrang ist tradiert von den Eltern und Großeltern. Im Krieg mussten die Leute hamstern, um Essen zu kriegen. Man musste etwas ansparen, das jederzeit verfügbar war, um zu überleben: Geld, Zigaretten oder anderes", sagt Hens. "Diese Geschichten sind bis in die Enkelgenerationen überliefert."

Was gern international als "German angst" belächelt wird, bewiesen Ethnologen schon vor Jahren. Die Deutschen haben eine sogenannte hohe Unsicherheitsvermeidung: Sie planen und wollen wissen, wie es weitergeht.

Da ist es nur logisch, dass beim deutschen Bankkunden Sicherheit vor Rendite geht. Ein stabiler oder leicht steigender Kontostand war wichtiger als kurzfristige Kursschwankungen zugunsten langfristiger Höchstgewinne. Ökonom Hens hat das Sparverhalten in 50 Ländern untersucht: Vor allem die Deutschen vermeiden Risiken, wo es nur geht.

"Man muss nicht viel wissen, sondern kann vertrauen"

Wie Willy Wehly. Er hat nie spekuliert, nie im Leben einen Kredit aufgenommen. Immer wieder sprachen ihn Bankberater an, auch sein Sohn, der selbst Banker ist: "Meine Güte, wollen Sie nicht mal die Summe anlegen?" Doch Wehly wollte nicht. "Vielleicht fehlte mir der Mut, etwas anderes auszuprobieren", sagt er heute.

Vielleicht war es aber auch wie bei vielen Deutschen: Das Sicherheitsdenken vermischte sich mit wenig Wissen. Sich an der Börse auszukennen hat keine Priorität im deutschen Bildungssystem. Wer Goethe zitieren kann, ist angesehen, Keynes gelesen zu haben ist kein Anlass für Bewunderung. Das Sparbuch ist deshalb urdeutsch: "Das Schöne daran war und ist ja: Man vertraut einer Sparkasse oder Bank das Geld an, die daraus mehr machen soll. Man muss nicht viel wissen, sondern kann vertrauen", sagt Historiker Wehber.

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Das Ideal des sparsamen Bürgers hat Tradition

Bildung in Gelddingen ist stattdessen Familiensache. Oft stammt das Wissen aus Zeiten, in denen man sich auf sechs Prozent Zinsen verlassen konnte. "Das Sparbuch ist das erste Bankprodukt, das jedes deutsche Kind in der Hand hält", sagt Wehber. Berater Barkow glaubt deshalb: Gespart werde auch aus Hilflosigkeit. "Die sehen keine Alternative."

Das liegt nicht nur an Unkenntnis. Das politische Ideal des sparsamen Bürgers hat Tradition; während des Nationalsozialismus wurde Sparen gefördert, ebenso in der DDR. Angela Merkel hat 2008 in der Krise und 2013 betont, die Einlagen seien sicher. Mit Wechselwirkung: Den Menschen ist Sparen wichtig, die Politik fördert es deshalb - und umgekehrt. Flankiert wird dies durch hohes Staatsvertrauen: "Die Deutschen sind immer noch sehr staatsgläubig, was sich in einer Versorgungsmentalität ausdrückt", sagt Ökonom Hens. Wo keine Eigenverantwortung für Risiko nötig ist, übernimmt sie keiner.

Hinzu kommt eine kulturelle Komponente: "Geldausgeben und Schuldenmachen war gesellschaftlich lange Zeit nicht anerkannt", sagt Historiker Wehber. Eine Entrepreneur-Mentalität, in der Kredite zu Erfolgsgeschichten gehörten, gab es nicht. "Für Aktieninvestments fehlen hierzulande die großen Vorbilder", sagt Forscher Hens. In den USA kenne man Investor Warren Buffett, in Deutschland gebe es solche Leute nicht.

Die Geschichte vom fleißigen und daher erfolgreichen Tellerwäscher versteht man hierzulande noch. Dass der Tellerwäscher reich bleibt, indem nicht mehr er arbeitet, sondern sein Geld für ihn, schon nicht mehr.

Unkenntnis, Urvertrauen in den Staat, Unsicherheit - aus diesen Gründen wurde eine Tradition aufrechterhalten, wo längst eine Zeitenwende hätte eintreten müssen. Denn weil jeder konventionelle gesparte Euro über die Jahrzehnte weniger wird, müssten die Deutschen nicht mehr sparen, sondern intelligenter sparen. Das ist nicht passiert, das durchschnittliche reale Vermögen ist gesunken. Langfristig könnten sich die Deutschen arm sparen.

"Vor allem junge Kunden kaufen vieles auf Raten statt anzusparen."

Wäre da nicht doch ein langsam Wandel. Wenige Bankberater haben so viele Jahre Schaltererfahrung wie Georg Simbeck. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr arbeitet er für die Münchner Stadtsparkasse in einer Innenstadtfiliale, mittlerweile ist er 41 Jahre im Dienst. Dass sich etwas tut, merkt er immer Ende Oktober, am Weltspartag. "Früher war das Personal schon morgens in heller Aufregung", erinnert er sich. "Heute ist das ein Tag wie fast jeder andere in der Woche." Wenige Leute kommen eigens dafür.

Dass sich etwas ändert, merkt Simbeck auch an etwas anderem: Die Termine dauern länger. Die typische Sparbucheröffnung ging früher schnell. Aber seit ein bis zwei Jahren, schätzt er, ist der Niedrigzins den meisten bekannt. Fast alle Kunden wissen, dass sie nicht mit hohen Zinsen rechnen können, wenn sie ihr Geld rumliegen lassen. Stattdessen wollen sie ausführliche Beratung, wie sie ihr Vermögen erhalten können und welches Risiko sie dafür eingehen müssen. Vor allem Anleger mittleren Alters sind bereit, auch andere Anlagemöglichkeiten in Betracht zu ziehen.

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Natürlich, sagt Simbeck, gebe es Unterschiede: "Vor allem junge Kunden kaufen vieles auf Raten statt anzusparen." Andere verdienen so wenig, dass Sparen gar nicht möglich ist. Aber zumindest teilweise scheint die Nullzinsphase ihr Gutes zu haben: Die Menschen denken genauer über ihre Geldanlage nach. Eines bleibt freilich gleich: Die Sicherheit ist wichtig. Aber dass dafür mehr nötig ist als ein Sparbuch, begreifen immer mehr Kunden.

Für einen Mentalitätswandel "braucht es einschneidende Erlebnisse"

Ist also der Niedrigzins die Chance für die Deutschen, sich vom Sparen zu verabschieden?

Möglicherweise, meint Historiker Wehber. Tatsächliche Verluste habe es auch schon früher bei hoher Inflationsrate gegeben. "Das Neue ist jetzt, dass sich das Geld auf dem Konto überhaupt nicht vermehrt." Das bringe viele ins Nachdenken. Einen echten Mentalitätswandel will er nicht ausrufen. "Dafür braucht es einschneidende, länger andauernde Erlebnisse."

Sollte der Niedrigzins 15 Jahre andauern, könnte das etwas ändern. Vielleicht reichen auch kleine Erlebnisse. Vor Kurzem entdeckte Ex-Manager Wehly in seinen Kontoauszügen eine Zinsgutschrift über 56 Cent. Zinsen für ein Jahr, für ein paar Tausend Euro. Es ärgert ihn. Ein ordentlicher Zins ist ihm wichtig. "Ich kann es nicht ändern, es trifft ja alle", sagt er. "Aber wenn ich das sehe, denke ich manchmal schon: Das mit dem Sparen - das hat alles keinen Sinn mehr."

© SZ vom 18.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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