Lebensmittelsabotage:Stechende Kartoffeln

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Kartoffeln von der kanadischen Insel Prince Edward wurden von unbekannten mit Nadeln kontaminiert. (Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)
  • Manipulierte Kartoffelknollen sind in unterschiedlichen Gegenden Kanadas aufgetaucht.
  • Kanadas Regierung spricht von Lebensmittelterroristen.
  • Viele andere Länder sind auch betroffen.

Von Bernadette Calonego, Charlottetown

Die Insel Prince Edward wirkt wie ein riesiges Kartoffelfeld. In der kleinsten der zehn Provinzen Kanadas reiht sich Acker an Acker, wohin der Blick auch fällt. Neuerdings ist Prince Edward Island (PEI) nicht nur bekannt für seine Kartoffeln, sondern auch für Sabotage: Die Polizei sucht fieberhaft nach einem Unbekannten, der Nähnadeln und andere Metallobjekte in Kartoffeln versteckt. Solche manipulierten Knollen sind in unterschiedlichen Gegenden Kanadas aufgetaucht. Die Ermittler konnten deren Herkunft nach PEI zurückverfolgen. Aber dem Täter ist man auch nach zehn Monaten noch nicht auf die Spur gekommen.

Lebensmittelsabotage ist der Albtraum jeder Industrie, jedes Unternehmens. Mit wenig Aufwand können Verrückte oder Kriminelle dem Ruf eines Lebensmittelproduzenten enormen Schaden zufügen. "Bösartige Kontamination und Erpressung sind vielleicht die finanziell schlimmsten Ereignisse, die eine Firma treffen können", schrieb die australische Ausgabe des Food Magazine.

Der Rückruf von Produkten kann schnell Hunderte Millionen Euro kosten, vom Schaden für eine Marke als dem guten Namen eines Unternehmens ganz zu schweigen. Deshalb herrscht Alarmstufe eins unter den Kartoffelbauern auf Prince Edward Island. Die Agrar-Erzeuger sind den Erfolg gewohnt. Sie produzieren jährlich 1,2 Milliarden Kilogramm Kartoffeln. Bisher wurde eine Million Kilogramm Kartoffeln vom Markt zurückgenommen.

Hohe Belohnung

Zuerst bot die Industrie eine Belohnung von 100 000 kanadischen Dollar (70 000 Euro) für entscheidende Informationen über mögliche Täter. Als niemand auspackte, wurde das Kopfgeld auf eine halbe Million Dollar (355 000 Euro) erhöht. Trotzdem ist der Schuldige noch nicht gefunden. Die Nervosität in Kanada wächst. Sogar die Bundesregierung befasst sich mit dem ungeklärten Fall. "Lebensmittel-Terroristen" nennt der kanadische Minister für Landwirtschaft, Gerry Ritz, die Saboteure.

Als Sharon Labchuk im Oktober 2014 einen Anruf der Polizei erhält, ist sie nicht überrascht. Seit fast 30 Jahren kritisiert die 62-jährige alte Umweltaktivistin die Kartoffelindustrie auf Prince Edward Island. Sie wirft den Produzenten Missbrauch von krebserzeugenden Mitteln zur Bekämpfung von Schadpilzen vor. "Die vergiften eine ganze Insel", sagt sie. Rasch waren Gerüchte zu ihr gedrungen, dass Industrievertreter ihren Namen nannten, wenn sie nach möglichen Verdächtigen gefragt wurden. Sharon Labchuk nimmt es gelassen und kann sogar darüber scherzen: "Ja, ich nähe und besitze Nähnadeln."

Aber wie so viele der 140 000 Menschen auf PEI wundert sie sich, dass der Fall noch nicht gelöst ist. "Wir sind eine kleine Insel, und normalerweise weiß man hier, was andere Leute tun", sagt sie. Lebensmittelsabotage ist meist schwierig aufzuklären.

Unternehmen weltweit betroffen

Die Kartoffelfelder auf Prince Edward Island sind für jedermann zugänglich. Wer sich also nachts unerkannt auf einen Acker schleichen will, muss kaum mit Entdeckung rechnen. Die Saboteure entsprechen auch nicht unbedingt gängigen Klischees. "Die Polizei beschreibt den typischen Täter als männlich", berichtet das Food Magazine, "von weißer Hautfarbe, zwischen 35 und 45 Jahren alt, er handelt allein oder mit einem Komplizen, er ist nicht vorbestraft und verkehrt nicht unter Kriminellen, ist nicht gewalttätig, aber intelligent und besitzt eine gute Schulbildung." In rund einem Viertel der Fälle kennen sich die Täter zudem in dem Unternehmen gut aus, seien es verärgerte Mitarbeiter, so das Magazin. Manche Lebensmittel-Saboteure lassen sich von Geldgier antreiben.

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Viele Kunden hatten die Brezen und Semmeln der Backfabrik verspeist, ohne dass sie von den ekligen Zuständen dort wissen konnten. Doch es gibt noch andere Vorwürfe.

Von Katja Riedel

Die deutsche Supermarktkette Lidl wurde in den vergangenen 15 Jahren mehrmals zum Opfer von Erpressern. Ein damals 57 Jahre alter Bauingenieur hatte Lidl per Brief und E-Mail mit der Vergiftung von Lebensmitteln gedroht und 1,2 Millionen Euro verlangt. Er verunreinigte Frischkäse mit Salz und Spiritus und kündigte an, als nächstes Babynahrung zu vergiften. Der Saboteur wurde gefasst, bevor er Geld in Empfang nehmen konnte. Menschen kamen keine zu Schaden. Das Landgericht Heilbronn verurteilte ihn 2005 zu vier Jahren und neun Monaten Haft.

Ein Jahr später versuchte ein drogenabhängiger Kaufmann aus Hamburg Lidl mit der Vergiftung von Lebensmitteln zu erpressen. Gefunden wurden aber lediglich zwei Odol-Mundwasserflaschen, die mit 23-prozentiger Salzsäure kontaminiert waren. Die Idee zu seiner Straftat kam dem Erpresser durch Gespräche mit einem Häftling, der ebenfalls wegen Erpressung von Lidl im Knast saß. Bevor der Täter 2006 in Dänemark gefasst wurde, hatte er über 20 000 Euro eingenommen.

Erpresser hinterlassen Spuren: Briefe, Mails, Bankkonten, auf denen Geld eingezahlt wird. Es gibt allerdings auch Saboteure, die schweigen - so wie jetzt auf Prince Edward Island. Zu ihnen zählen jene Täter, die es wahrscheinlich sogar amüsiert, Panik und Zorn zu erregen. Denen es ein sadistisches Vergnügen bereitet, der Polizei bei ihrer Jagd zuzusehen. Rache war der Antrieb für die Kanadierin Tatyana Granada, die im Jahr 2010 in einem Co-op-Supermarkt in der Stadt Calgary Objekte in unterschiedliche Lebensmittel steckte. Sie war im Jahr zuvor wegen Diebstahls im selben Laden festgenommen worden. Die Firma Coop schätzte später die durch den Fall entstandenen Kosten auf mindestens 450 000 Euro. Manche Lebensmittelsaboteure werden nie gefasst.

Vor sechs Jahren bissen in Schweden Konsumenten auf Glassplitter in Hühnerfleisch. Das Glas wurde zuerst in gefrorenen Hühnchen und dann in Packungen mit frischem Hühnerfleisch im ganzen Land gefunden. Die Hühnchen stammten nicht nur aus Schweden, sondern auch aus Deutschland und Dänemark. Aufsehen erregte die Tatsache, dass die Glassplitter an so vielen unterschiedlichen Orten in Schweden entdeckt wurden. Große Anbieter wie die schwedische Gruppe Kronfaagel waren betroffen.

Als Folge räumte Kronfaagel 900 Tonnen Hühnerfleisch aus den Verkaufsregalen. Kantinen, Krankenhäuser, Schulen und andere Institutionen tischten für geraume Zeit kein Hühnerfleisch mehr auf. Produzenten verstärkten ihre Sicherheitsvorkehrungen.

Fachleute spekulierten damals, ob Tierschützer dahintersteckten, die aus Protest über inhumane Tierhaltung, Schlachtung und Transporte gehandelt hätten. Andere verdächtigten die Konkurrenz oder rachsüchtige Mitarbeiter. Bis heute wurde niemand für das Verbrechen verurteilt. "Die Polizei und Ermittler konnten nicht genügend Beweise finden, um gerichtlich gegen jemanden vorzugehen", sagt die Kronfaagel-Sprecherin Jenny Fridh.

Tödlicher Fall von Sabotage in Japan

Auch Getränke können das Ziel von Saboteuren sein. Der folgenschwerste Fall ereignete sich im Jahr 1985 in Japan, als zwölf Menschen starben. Gift steckte in Getränkeautomaten. Weitere Opfer überlebten, aber erkrankten schwer. Unbekannte hatten beliebte Getränke mit einem Pflanzengift angereichert.

Die Täter zielten vor allem auf die Marke Oronamin C, ein Energiegetränk, von dem jährlich Milliarden Portionen verkauft wurden. Die Polizei vermutete, dass die Mörder die vergifteten Getränkeflaschen in dem Fach zurückließen, in das die Behälter für die Käufer herunterfallen. Seither raten die Trinkwasser-Hersteller den Konsumenten, ungewöhnliche Gerüche oder Veränderungen an den mittlerweile versiegelten Flaschen oder Dosen den Produzenten sofort zu melden.

Ähnliche tragische Ereignisse in den USA hatten zu wegweisenden Veränderungen beim Verpackungsschutz von Medikamenten und Lebensmitteln geführt. Todesfälle durch die Sabotage des rezeptfreien Schmerzmittels Tylenol bewirkten, dass weltweit viele Produkte fortan sicherer verpackt wurden. Man führte in den USA neue Gesetze zur Verhinderung und Ahndung von Lebensmittelsabotage ein. Im Jahr 1982 starben sieben Menschen in der Stadt Chicago und eine Frau im Staat New York nach der Einnahme von Tylenol-Kapseln, die mit Zyanid (Blausäure) behandelt worden waren.

Der Fall bleibt bis heute ungeklärt. Zwar wurde ein ehemaliger Steuerberater namens James W. Lewis wegen Erpressung zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte von Tylenol, einer Tochterfirma des Konzerns Johnson & Johnson, eine Million US-Dollar gefordert. Aber die eigentliche Vergiftung der Opfer konnte ihm nicht nachgewiesen werden. An den Ermittlungen waren mehr als hundert Polizeibeamte beteiligt. Sie überprüften 400 verdächtige Personen.

Tylenol überwand die Megakrise erstaunlich rasch

Tylenol wurde vorübergehend vom Markt genommen, und der Kurs der Aktien stürzte ab. In den Monaten nach den Morden gab es 270 Fälle von verdächtigen Sabotageakten an Konsumprodukten in den USA. Nachahmungstaten sind recht häufig und machen es um so schwieriger, den ursprünglichen Täter zu finden.

Die Firma Tylenol ließ die Produkte fortan so verpacken, dass eine unerlaubte Beschädigung entdeckt werden konnte. Für Firmen ist ein Fall wie die Tylenol-Sabotage ein Albtraum-Szenarium. Damals sagten Marketing-Fachleute voraus, die Marke Tylenol werde sich nie mehr vom Schaden erholen. Das Medikament machte in jenem Jahr 17 Prozent des Unternehmensgewinnes aus. Aber Tylenol überwand die Megakrise trotz der düsteren Prognosen erstaunlich rasch und ist seit Jahren wieder meistverkauftes Schmerzmittel in den Vereinigten Staaten.

Umweltaktivistin Sharon Labchuk, 62, humorvoll zu Gerüchten über militante Aktionen von ihr: "Ja, ich nähe und besitze Nähnadeln." (Foto: BCA)

Das Unternehmen habe nach der Lebensmittelsabotage klug und radikal reagiert, schrieb die New York Times in einem Rückblick Jahre später: "Sie setzte ihre Kunden an die erste Stelle, indem sie 31 Millionen Tylenol-Fläschchen vom Markt zurückzog und ein kostenloses Ersatzprodukt in der sichereren Tablettenform anbot." Vor 1982 habe nie eine Firma bei Sabotagefällen ein Produkt aus den Läden genommen, berichtete die Zeitung. Die Maßnahmen kosteten Johnson & Johnson bereits seinerzeit mehr als 100 Millionen US-Dollar. Doch die Rückrufaktion zahlte sich aus. Der Aktienkurs erholte sich nur wenige Monate nach den Morden.

Unternehmen müssen stets auf den Ernstfall vorbereitet sein: Der englische Ausdruck "Food Defense" (Verteidigung der Lebensmittel) ist auch in Deutschland gebräuchlich. Das Centre of Excellence for National Security (CENS) in Singapur listete in einer Studie weltweit 359 bestätigte und 125 unbestätigte Fälle von Lebensmittelsabotage im Zeitraum von 1950 bis 2008 auf. Laut der Studie kommen die Verbrechen in 98 Prozent der Fälle am Ende der Wertschöpfungskette von Nahrungsmitteln vor: in Läden, zu Hause und am Arbeitsplatz.

Trotzdem sagt Rechtsanwalt Axel Haentjes, der Leiter Lebensmittelrecht beim Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels: "Die großen Bedrohungsszenarien sind eher bei den Produzenten zu sehen." Nur dort sei es möglich, eine große Zahl von Lebensmitteln zu kontaminieren. Haentjes war schon dabei, als Krisenpläne geübt wurden. "In wenigen Stunden können Supermärkte betroffene Ware austauschen", sagt er und versichert, dass es nicht so einfach sei, auf diese Weise einen Terroranschlag zu verüben. Aber auszuschließen sei es nicht. "Wenn sich ein schlechter Mensch überlegt, wie er möglichst vielen schaden kann, dann kommt er natürlich auch auf Lebensmittelsabotage", sagt Axel Haentjes.

Wenig Fakten und Statistiken zu Lebensmittelsabotage in Deutschland

Fakten und Statistiken über Lebensmittelsabotage sind in Deutschland nicht leicht zugänglich, falls sie überhaupt erhoben werden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung befasst sich nicht mit Lebensmittelsabotage. Da geht es eher um Themengebiete wie das Verhalten von natürlich entstandenen Krankheitserregern in Milch oder Fleisch. Beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden gibt es keine zentrale Statistik zu Straftaten im Bereich Lebensmittelsabotage. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit verweist auf die einzelnen Bundesländer, deren Aufgabe die Lebensmittelüberwachung sei. Behörden wollen bei so sensiblen Vorgängen verständlicherweise keine schlafenden Hunde wecken.

In Deutschland sind die Hersteller gemäß einer Verordnung der Europäischen Union verpflichtet, Lebensmittel zurückzurufen beim Verdacht auf Kontamination oder Manipulation. Wenn sich das Produkt bereits in Händen der Endverbraucher befindet, muss die Öffentlichkeit informiert werden. Falls die Ware aber nur aus für Verbraucher nicht zugänglichen Lägern zurückgeholt werden muss, erfahren lediglich Insider davon.

"In der Mehrzahl der Fälle wird die Öffentlichkeit nicht eingeschaltet", sagt der Umweltgutachter Georg Sulzer, der zwei Bücher zur Sabotage bei Lebensmitteln verfasst hat. Aus den genannten Gründen sind die bekannt gewordenen Fälle wohl nur wenige von vielen. Sulzer weist auf die weltweit gültige Zertifizierung für Hersteller von Nahrungsmitteln hin. Verlangt werden Vorsorgemaßnahmen, um das Risiko für Lebensmittelsabotage zu reduzieren.

Auf Prince Edward Island haben sich die Kartoffelproduzenten angesichts ihrer Ohnmacht mit der praktischsten aller Waffen ausgerüstet: Metalldetektoren kontrollieren die Kartoffeln. Die Kosten von umgerechnet 2,9 Millionen Euro übernimmt der kanadische Steuerzahler.

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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