Glyphosat:Vergiftete Debatte

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Pflanzenschutzmittel stabilisieren die Erträge und erleichtern die Feldarbeit. Es geht auch ohne Pestizide wenn die Gesellschaft höhere Preise zahlt. (Foto: E+/Getty Images)

Löst das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat Krebs aus? Ja, sagt die eine Behörde. Nein, meint das andere Amt. Wie es zu dem Wirrwarr kommen konnte - und warum auch ein schnelles Verbot des Pestizids Risiken birgt.

Von Hanno Charisius

Selten dürften 13 Seiten eng mit Literaturangaben bedrucktes Papier so viel Begeisterung ausgelöst haben. "Jetzt kann das Orakeln endlich der Faktenanalyse weichen", ruft Roland Solecki ins Telefon. Der Mann leitet beim Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin die Abteilung "Sicherheit von Pestiziden" und man kann wohl sagen, dass er und sein Institut in den vergangenen Wochen im Zentrum eines Shitstorms standen.

Seit die internationale Krebsforschungsagentur IARC in Lyon das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat Ende März als "wahrscheinlich krebserregend" eingestuft hat, kommt von allen Seiten Kritik. Würden die internationalen Zulassungsbehörden dieser Einschätzung folgen, müsste Glyphosat vom Markt genommen werden. Die Experten in Soleckis Haus hatten hingegen nur "sehr begrenzte Hinweise" darauf gefunden, dass der Stoff Krebs auslöst, und somit keine Veranlassung gesehen, Glyphosat aus dem Verkehr zu ziehen. Eine detaillierte Begründung hatte das IARC-Gremium im März allerdings nicht mitgeliefert, weshalb Solecki und seine Mitarbeiter bis Mittwochnachmittag rätseln mussten, wie die Kollegen in Lyon zu ihrem Ergebnis gekommen waren.

Zwei Behörden ringen um die Deutungshoheit. Kann es sein, dass beide Recht haben?

Am Mittwoch veröffentlichte die IARC, die eine Unterorganisation der Weltgesundheitsorganisation WHO ist, endlich ihren vollständigen Bericht, der im Duktus der Risikoforscher als "Monografie" bezeichnet wird. 92 Seiten lang, 13 Seiten davon Literaturverweise.

"Hochachtung vor den Kollegen, dass sie das so schnell geschafft haben", sagt Solecki, es sei extrem anspruchsvoll, eine Monografie in so kurzer Zeit zu erstellen. Dann muss er los, um seine Experten zusammenzutrommeln. Es gilt, das Schreiben aus Lyon zu analysieren: Hatte man dort andere Informationen als in Berlin? Wie wurden dort die Daten bewertet, die man selber schon kennt? Es kann Tage oder Wochen dauern, bis alle Unterschiede herausgearbeitet sind.

Der Expertenstreit hätte sicherlich weniger Aufmerksamkeit erregt, wenn Glyphosat nicht der meistverkaufte Anti-Unkraut-Wirkstoff der Welt wäre. Landwirten erspart es die aufwendige Unkrautbekämpfung mit mechanischen Werkzeugen. Es gibt Nutzpflanzen, die durch einen gentechnologischen Eingriff resistent sind gegen das Herbizid. In Ländern, die den Anbau solcher Pflanzen erlauben, wird besonders viel Glyphosat verbraucht. Aber auch in Deutschland, wo es derzeit keine Gentechnik auf dem Acker gibt, ist der Absatz angestiegen.

Noch dazu erscheint die IARC-Monografie gerade in dem Jahr, in dem die Zulassung für das Unkrautmittel in Europa ausläuft. Eine Gruppe von Herstellern hat eine Verlängerung der Zulassung beantragt. Deutschland ist als sogenannter Berichterstatter für die europäisch-gemeinschaftliche Bewertung von Glyphosat zuständig. Das BfR bekam diese Aufgabe und hat unter Zuarbeit der Hersteller - so schreiben es die EU-Regelungen vor - seinerseits eine Monografie erstellt, die noch deutlich umfangreicher ist als die aus Lyon.

Mehr als 1000 Studien, Dokumente und Veröffentlichungen seien ausgewertet worden, heißt es beim BfR. Die mögliche Krebsgefahr ist dabei nur einer von vielen untersuchten Aspekten. Nun liegt der in den vergangenen Monaten bereits mehrfach ergänzte Bericht bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA in Parma. Und Solecki will auch die IARC-Monografie noch nachreichen, bevor die EFSA ihre Empfehlung zum weiteren Umgang mit Glyphosat nach Brüssel schickt. Die EU-Kommission trifft schließlich gegen Ende des Jahres die Entscheidung, ob Glyphosat noch eine Zulassung für weitere zehn Jahre bekommt.

Das BfR steht mit seiner Einschätzung nicht allein, auch Behörden in den USA, Brasilien und Australien teilen die Ansicht, dass von Glyphosat keine Krebsgefahr für die breite Bevölkerung ausgeht.

Man muss sich sehr tief in die Papierberge graben, um zu verstehen, weswegen die Meinungen der beiden Institutionen auseinander gehen. Beide Expertengruppen können zum Beispiel auf die selben Untersuchungsergebnisse blicken und zu unterschiedlichen Folgerungen kommen. Da ist etwa jene Studie aus dem Jahr 1983, die eine seltene Form von Nierentumoren bei Mäusen gefunden hatte, die bis zu zwei Jahre lang Glyphosat ins Futter gemischt bekommen hatten. Für die IARC-Gruppe ist das ein Hinweis auf eine kanzerogene Wirkung. Für die Leute vom BfR erscheint die Dosis, bei der die Tumoren auftauchten, unrealistisch hoch. Ein Mensch würde an einer auf sein Körpergewicht hochgerechneten Menge sehr wahrscheinlich durch Vergiftung sterben, bevor sich Tumoren bilden könnten.

Auch bei anderen Tumortypen gehen die Bewertungen auseinander. Das BfR hält zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen Tumoren an der Bauchspeicheldrüse von Ratten und verfüttertem Glyphosat für "unwahrscheinlich" - allerdings ohne nachvollziehbar zu machen, durch welche statistischen Analysen man zu diesem Ergebnis kam. Das Amt versuchte sich dabei, aus einer Reihe von Untersuchungen zum selben Tumortyp ein Bild zu machen, während für die IARC bereits ein Trend in einer Studie ein alarmierender Hinweis sein kann und Grund genug, diese Tumorart mit auf die Liste zu setzen.

Die IARC-Experten gehen bei ihrer Bewertung sehr schematisch und nach klar vorgegebenen Kriterien vor. Ihr Urteil setzt sich immer aus drei Argumenten zusammen: Diese betreffen die vorliegenden epidemiologische Daten, Beobachtungen aus Tierversuchen, und ob es einen plausiblen Mechanismus gibt, durch den der zu untersuchende Stoff Krebs bei Menschen auslösen könnte.

Für die Kanzerogenität von Glyphosat bei Menschen sieht die Gruppe zwar nur "begrenzte Evidenz", klarer werde die Sache jedoch, wenn man die Daten aus Tierversuchen hinzuziehe. Der IARC-Bericht sieht hier "ausreichende Evidenz". Das Gremium nennt zudem gleich zwei Mechanismen, über die Glyphosat Krebs auslösen könnte. All das zusammengenommen führte die Expertengruppe nach einem festgelegten Entscheidungsschema dazu, Glyphosat als "wahrscheinlich krebserregend" einzustufen.

Die wesentlichen Unterschiede zur Einschätzung des deutschen Amts erklärt die Leiterin der IARC-Bewertung Kate Guyton, so: "Das BfR kommt zu dem Schluss, dass die Tierversuchsdaten keine Belege für Kanzerogenität liefern. Weil das Institut aber nicht die Kriterien veröffentlicht, nach denen es solche Daten beurteilt, ist nicht klar, wie viele Tests und welche statistischen Methoden notwendig wären, um dieses Urteil zu ändern."

Außerdem scheine die Berliner Behörde bislang die möglichen Wirkmechanismen als nicht hinreichend belegt anzusehen. Guyton betont, dass es noch keinen Beweis dafür gebe, dass Glyphosat über diese Mechanismen auch beim Menschen zu Krebs führt, anderenfalls hätte ihr Gremium den Stoff als "krebserregend" eingestuft, ohne das einschränkende "wahrscheinlich" davor.

Dass das BfR bislang zu einem anderen Ergebnis gekommen ist, muss nicht unbedingt daran liegen, dass die Behörde nachlässig gearbeitet hat. Beide Institutionen verfolgen unterschiedliche Ziele. Der IARC geht es darum, herauszufinden, welche Stoffe prinzipiell Krebs auslösen können. In dieselbe Kategorie wie Glyphosat fallen nach der Einschätzung von IARC-Experten auch Inhaltsstoffe, die natürlicherweise in Äpfeln, Grapefruits oder in frittierten Lebensmitteln enthalten sind. Was diese Einstufung also nicht verrät ist, wie wahrscheinlich man Krebs bekommt, wenn man diesen Stoffen ausgesetzt ist.

"Der IARC-Prozess ist keine Risikobewertung", erklärt Alan Boobis, Professor für Biochemie und Pharmakologie am Imperial College in London. Eine solche Abschätzung fällt eher in das Ressort des BfR. "Die Schlussfolgerungen der IARC sind wichtig und sie sollten bei der weiteren Bewertung glyphosathaltiger Pestizide berücksichtigt werden", sagt Boobis. "Doch dabei darf man nicht vergessen, wie diese Mittel verwendet werden."

Das heißt: Wenn von Glyphosat eine Krebsgefahr ausgeht, dann sind davon vor allem Menschen betroffen, die unter schlechten Sicherheitsvorkehrungen mit großen Mengen Glyphosat arbeiten müssen oder in Regionen leben, wo das Pestizid massiv eingesetzt wird. Seit einigen Jahren mehren sich Berichte aus Südamerika über Fehlbildungen bei Kindern, deren Eltern in der Nähe von gespritzten Feldern leben. In einigen Regionen ist es üblich, Pestizide von Flugzeugen aus auf Felder mit resistenten Nutzpflanzen regnen zu lassen - ohne Rücksicht auf die Menschen, die dort leben. Das sei überhaupt nicht vergleichbar mit den Auflagen, die in Europa eingehalten werden müssten, sagt Roland Solecki. Kein Pflanzenschutzmittel sei harmlos und erst recht nicht, wenn fahrlässig damit umgegangen werde.

Doch für die Risikobewerter ist es schwierig zu beurteilen, was genau die Ursache von Fehlbildungen oder Krebsgeschwüren in Südamerika ist. Denn Glyphosat wird praktisch nie in Reinform auf die Felder gesprüht, sondern ist nur ein Bestandteil in einer Pestizidrezeptur. Über 750 verschiedene Glyphosatmischungen hat die IARC weltweit gezählt. Viele von ihnen enthalten Stoffe, die in Europa längst nicht mehr zugelassen sind.

Seit einigen Jahren hegen Forscher vom BfR den Verdacht, dass beigemischte Netzmittel, die dem Wirkstoff das Eindringen in die Pflanze erleichtern, für die in anderen Ländern beobachteten schädlichen Effekte verantwortlich sind. Dazu kommt, dass auf ein Feld meist nicht nur ein Pflanzenschutzmittel gesprüht wird, sondern mehrere. Diese Probleme mit der "Mischexposition" gebe es immer, sagt der Toxikologe Peter Clausing, der im Pestizid Aktionsnetzwerk (PAN) aktiv ist, einem Verein, der auf die schädlichen Folgen von Pflanzenschutzmitteln aufmerksam machen will. Er fände es sinnvoll, wenn die reichen Länder sauber angelegte Studien in den Hochexpositionsländern starten würden, um diese Fragen endlich zu klären.

Kein Pflanzenschutzmittel ist harmlos. Erst recht nicht, wenn fahrlässig damit hantiert wird

Den Menschen dort wäre durch ein Glyphosatverbot nicht viel geholfen. Dann würde ein anderes Pestizid versprüht werden - eines, das wahrscheinlich weit weniger gut untersucht ist als die derzeit so umstrittene Substanz. Und auch für Europa sollte man es sich überlegen, ob man einen sehr gut untersuchten Stoff vom Markt nimmt, von dem man derzeit nicht ausschließen kann, dass er Krebs erregt, nur um ihn durch Substanzen zu ersetzen, zu denen es bislang kaum Risikoforschung gibt.

Wie sinnvoll das wäre, kann man derzeit in einigen Baumärkten beobachten, die glyphosathaltige Unkrautmittel aus Imagegründen aus dem Sortiment genommen haben. "Die bekanntermaßen gefährlicheren Mittel bleiben weiterhin im Verkauf", warnt Solecki. Besser als der Umstieg auf einen neuen Unkrautvernichter wäre eine "vorrangig mechanische Bekämpfung", argumentiert Gesine Schütte, Ökologin von der Universität Hamburg und PAN-Mitglied. Sie vermutet, dass der niedrige Preis und die breite Wirksamkeit des Spritzmittels zum steigenden Verbrauch in Deutschland geführt haben.

Schütte bedauert, dass die Umweltwirkungen aus der aktuellen Diskussion meistens ausgeblendet werden. "Für den Hasen am Feldrand ist es gleichgültig, welches Unkrautvernichtungsmittel seine Nahrungsgrundlage zerstört." Glyphosat vernichte diese Grundlage jedoch im Feld und in Randbereichen in noch größerem Ausmaß als alle Alternativen.

Wenn Unkrautmittel nicht mit sehr viel Bedacht eingesetzt werden und der Bauer keine Bereiche ungespritzt lässt, schwindet die Artenvielfalt auf den bearbeiteten Feldern. Solche Effekte fließen nicht in die BfR-Bewertung mit ein. "Selbst viele Nichtregierungsorganisationen halten Umweltaspekte zurück", sagt Schütte. Wohl weil mehr Spendengelder reinkommen, wenn sich eine NGO um die menschliche Gesundheit kümmert als um die der Natur.

© SZ vom 01.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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