Hartz IV: Regelsätze für Kinder:"Nicht viel Luft nach oben"

Lesezeit: 3 min

Das Verfassungsgericht verhandelt die Hartz-IV-Sätze für Kinder. Wissenschaftler Friedrich Thießen plädiert für Sach- statt Geldleistungen. Die Regelsätze sieht er bereits am oberen Limit.

Michael König

Professor Friedrich Thießen, 52, lehrt Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre an der Technischen Universität Chemnitz. Bekannt wurde der Wissenschaftler 2008 mit einer Studie: Darin stellte er fest, dass die Ziele der sozialen Mindestsicherung so schwammig formuliert sind, dass der Hartz-IV-Regelsatz theoretisch auf 132 Euro gekürzt werden könnte. Dieses Interview wurde schriftlich geführt.

sueddeutsche.de: Herr Thießen, das Bundesverfassungsgericht berät seit heute über die Hartz-IV-Sätze für Kinder. Bisher erhalten beispielsweise Zwölfjährige 60 Prozent von jenem Satz, den ein alleinstehener Erwachsener bekommt. Ist das nachvollziehbar?

Friedrich Thießen: In einigen Aspekten sicherlich, ja. Die staatliche Hilfe nach dem Sozialgesetzbuch will den "Lebensunterhalt" der Bedürftigen sichern. Darunter wird heutzutage das physische Überleben und die Teilhabe am kulturellen Leben verstanden. Zum physischen Überleben zählen Ernährung, Gesundheitsvorsorge, Unterkunft und Kleidung. Hier braucht ein Kind vermutlich tatsächlich weniger Geld als Erwachsene. Im Bereich "kulturelle Teilhabe" kann es anders aussehen.

sueddeutsche.de: Nämlich wie?

Thießen: Erwachsene und Kinder leben in teilweise sehr unterschiedlichen Welten. Nehmen Sie das Beispiel Mobilität: Für einen Erwachsenen ist es vielleicht möglich, sich in einer bestimmten Region aufzuhalten und diese nicht zu verlassen. Wenn aber ein Kind an einem Schulausflug teilnehmen soll und dafür das Geld fehlt, ist das ein Problem. Dann ist die Teilhabe nicht gewährleistet. Auch der Punkt "Kommunikation" zählt zum kulturellen Leben: Kinder und Jugendliche kommunizieren heute anders als Erwachsene. Das muss nicht per se billiger sein.

sueddeutsche.de: Politiker der Linken und Grünen fordern, die Regelsätze generell zu erhöhen - damit wäre das Problem der Kinderarmut beseitigt. Was halten Sie davon?

Thießen: Die Regelsätze sind im Vergleich zu dem, was in den Gesetzen formuliert ist, nicht zu niedrig, sondern eher am oberen Rand angesetzt. Wer die Sätze erhöhen will, muss die Gesetze entsprechend neu formulieren und dem Steuerzahler die Änderungen erklären. Das versuchen viele Politiker zu vermeiden. Erhöhungen werden möglichst unauffällig untergebracht. In diesem Zusammenhang kann auch die Debatte um die Erhöhung der Leistungen für Kinder gesehen werden. Außerdem ist nicht mehr viel Luft nach oben.

sueddeutsche.de: Das müssen Sie erklären.

Thießen: Der Regelsatz für Erwachsene bei Hartz IV liegt bei vielen Positionen schon jetzt annähernd auf dem Niveau dessen, was die allgemeine Bevölkerung an Ausgaben hat: 91 Prozent der Ausgaben für Einrichtung und Haushaltsgeräte sind durch Hartz IV abgedeckt. Bei Ernährung sind es 96 Prozent, bei Alkohol und Tabak ebenfalls. Bei Bekleidung und Schuhen sind es 100 Prozent. Das ist kaum zu steigern. Dennoch erhoffen sich viele Erwachsene sicherlich, über die Kinder das verfügbare Einkommen zu erhöhen.

Auf der nächsten Seite: Thießen plädiert für Sach- statt Geldleistungen für Kinder. Das derzeitige System hält er für teilweise gescheitert.

Weitere Videos finden Sie hier

sueddeutsche.de: Was schlagen Sie stattdessen vor?

Thießen: Das Sozialgesetzbuch fordert von den Hilfen, dass sie eine menschenwürdige Lebensführung ermöglichen. Außerdem wird verlangt, dass die Hilfe die Menschen dazu befähigen soll, auf Dauer unabhängig von ihr zu leben. Diese beiden Forderungen werden in unserer Gesellschaft aber missachtet. Zu einem Leben in Würde gehört Arbeit. Der Mensch braucht das Gefühl, gebraucht zu werden. Geldleistungen allein machen Menschen nicht zufrieden. Sie helfen offenbar auch nicht, auf Dauer unabhängig von staatlicher Hilfe zu leben.

Wenn man an die Kinder denkt, türmen sich hier riesige Probleme auf. Ihnen soll dabei geholfen werden, einmal erfolgreiche, unabhängige und zufriedene Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Um das zu erreichen, kann eine lückenlose Kinderbetreuung viel sinnvoller sein als eine kleine geldliche Zuwendung - auch für die Eltern.

sueddeutsche.de: Was glauben Sie, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet?

Thießen: Man kann dem Gericht nicht vorgreifen, nur so viel: Es wäre schlimm, wenn die Verhandlungen damit endeten, dass ein klein bisschen an der Höhe der Geldleistungen geschraubt, ansonsten aber alles beim Alten gelassen würde. Es gibt in unserer Gesellschaft eine Blockade, was soziale Sicherung angeht. Das derzeitige System ist in Teilen gescheitert. Gerade weil es bei den Kindern noch mehr als bei Erwachsenen um die Konsequenzen für die Zukunft geht, wünsche ich mir eine Erneuerung des Systems. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann wegweisend sein.

sueddeutsche.de: Welche Kosten kommen auf den Bundeshaushalt zu, sollte sich das Bundesverfassungsgericht für eine Erhöhung aussprechen?

Thießen: Das ist nicht absehbar. Das Bundesverfassungsgericht macht seine Entscheidung nicht von der Haushaltslage abhängig. Es wird der Regierung aber sicherlich auch keine übermäßig hohen Sozialausgaben aufbürden.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: