Empörung über Sozialstudie:Reizwort: Hartz IV

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Die Autoren der heftig kritisierten Hartz-IV-Studie sind entsetzt: Niemand habe gefordert, die Hartz-IV-Sätze von derzeit monatlich 351 Euro auf 132 Euro herabzusetzen.

Thorsten Denkler, Berlin

Die Empörung setzte prompt ein. Kaum waren erste Berichte über eine Hartz-IV-Studie der Technischen Universität Chemnitz im Umlauf, nach der angeblich 132 Euro im Monat für den Lebensunterhalt ausreichend seien, meldeten sich die ersten Kommentatoren zu Wort: Der Paritätische Wohlfahrtsverband nannte die Studie völlig indiskutabel. Deren Hartz-IV-Experte Rudolf Martens fühlte sich an die "Armenfürsorge um 1900" erinnert. Der Deutsche Gewerkschaftsbund ließ mitteilen, die Studie "zeuge von einem zynischen Menschenbild".

Jeder achte Deutsche ist von Armut bedroht. Kostenlose Mahlzeiten, wie hier in einer Kieler Sozialeinrichtung sind da willkommen. (Foto: Foto: AP)

Auch die Medien machten mit. Die Nachrichtenagentur AP schrieb von einem "Wirbel um Studie zu Hartz-IV-Regelsatz". Spiegel online und auch sueddeutsche.de bezeichneten die Studie als "provokant" und intonierten, die Forscher verlangten niedrigere Hartz-IV-Sätze.

Die Autoren der Studie zeigten sich auf Nachfrage entsetzt über die heftigen Reaktionen. Friedrich Thießen, einer der beiden Autoren der Studie, sagte zu sueddeutsche.de: "Das ist alles völliger Quatsch." Niemand habe gefordert, die Hartz-IV-Sätze von derzeit monatlich 351 Euro auf 132 Euro herabzusetzen.

Tatsächlich findet sich in der Studie keine einzige Kürzungsforderung. Die Forscher haben die Hartz-IV-Regelsätze lediglich an den politisch festgelegten Zielen der sozialen Grundsicherung gemessen. Die Methode: Es werden Warenkörbe definiert, deren Inhalt mit den politischen Zielen übereinstimmt. Der Wert der Warenkörbe wird in realen Preisen berechnet - in diesem Fall sind es die Preise aus dem Jahr 2006. Daraus lässt sich dann der Bedarf eines Hartz-IV-Empfängers ermitteln.

Ziele zu schwammig formuliert

Das Problem und gleichzeitig die größte Kritik der Autoren: Die Politik hat die Ziele der sozialen Mindestsicherung zu schwammig formuliert, sagt Thießen. Je nachdem, ob die Ziele eng oder weit ausgelegt werden, kommt ein niedriger oder höherer Regelsatz heraus. Die 132 Euro im Monat, die die Gemüter so erhitzen, sind letztlich nicht mehr als eine Ableitung aus einer zwar sehr eng gefassten, aber unter nüchterner wissenschaftlicher Betrachtung zulässigen Interpreation der politischen Ziele der sozialen Mindestsicherung.

Doch auch bei weitester Auslegung der Ziele gelang es den Forscher nicht, einen Bedarf zu ermitteln, der im Jahr 2006 über dem damaligen Hartz-Regelsatz hätte liegen können. Thießen sagt: "Gemessen an den politischen Zielen war der Regelsatz im Jahr 2006 zu hoch."

Ein Beispiel: Wenn der Genuss von Alltagsdrogen wie Zigaretten und Alkohol den politischen Zielen der sozialen Mindestsicherung zugerechnet wird, dann schafft das einen zusätzlichen Finanzbedarf von 16 bis 46 Euro. Ist es kein staatliches Ziel, den Genuss von Alltagsdrogen zu finanzieren, müsste der Betrag wegfallen.

Damit sprechen sich die Autoren aber nicht für Kürzungen aus. Ihre Studie habe aus den Ergebnissen "keine Konsequenzen abgeleitet", schreiben die Autoren in einem Vorwort zu dem 33 Seiten umfassenden Werk. Thießen dreht sogar den Spieß um: "Wenn die Politik höhere Regelsätze will, dann müsste sie erst mal ihre Ziele anpassen."

Kritik äußert Thießen auch an der "einseitig monetären Ausrichtung" der Sozialpolitik. Zu den definierten, aber völlig vernachlässigten politischen Zielen gehöre nämlich auch, den Hartz-IV-Empfängern die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dazu gehöre vor allem eine angemessene Beschäftigung, sagt Thießen.

Anlass für die Studie waren die immer wieder erhobenen Klagen auch vor Gerichten, die Regelsätze seien zu niedrig. Thießen sagt, diese Frage lasse sich nur beantworten, wenn die in den Gesetzen formulierten politischen Ziele zugrunde gelegt werden. Seine Studie hat deshalb lediglich eines gezeigt: Wenn Gerichte sagen, die Regelsätze seien nicht zu beanstanden, dann muss die Kritik an solchen Urteilen in erster Linie an die Politik gehen. Und nicht an Wissenschaftler.

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