Deutschland: Sozialleistungen:Hartz IV - alle Fragen offen

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Hartz IV soll runderneuert werden - doch wie Ministerin von der Leyen das schaffen will, bleibt ihr Geheimnis. Einfach die Hilfssätze zu erhöhen, wäre für den Arbeitsmarkt verheerend.

Thomas Öchsner

Gut fünf Jahre danach ist es wie am ersten Tag: Beim Thema Hartz IV kochen die Emotionen hoch. Jeder glaubt mitreden zu können, weil jeder zumindest einen Langzeitarbeitslosen kennt, dem es besonders schlecht oder offenbar viel zu gut geht mit den 359 Euro Grundsicherung im Monat. Die größte Arbeitsmarktreform in der Geschichte der Bundesrepublik ist bis heute kein allgemein akzeptierter Grundpfeiler des Sozialsystems.

Das Bundesverfassungsgericht will, dass Arbeitsministerin Ursula von der Leyen die Hartz-IV-Sätze für Kinder neu regelt. Daran könnte die Ministerin scheitern. (Foto: dpa)

Nun muss die Bundesregierung nachbessern, die Hartz-IV-Sätze bis Jahresende neu festlegen und bei den Kindern stärker als bisher Bildungsausgaben und die Teilhabe am Vereinsleben berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht will es so. Das ist heikel und kompliziert. Selbst Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die sich als sehr tatkräftig inszeniert, könnte daran scheitern.

Für die einen ist Hartz IV "Armut per Gesetz" und eine Demütigung. Für die anderen eine Errungenschaft, ohne die das deutsche "Jobwunder" nicht möglich gewesen wäre. Und für sogenannte Klartext-Redner wie den ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin trägt das System der Grundsicherung dazu bei, dass "Millionen grundsätzlich arbeitsfähige Menschen dem Staat auf der Tasche liegen". Das Paradoxe daran ist: Alle haben ein bisschen recht.

Henrico Frank, der Mann, dem der Ex-SPD-Vorsitzende Kurt Beck riet, er solle sich waschen und rasieren, "dann haben Sie in drei Wochen einen Job", ist ein fleißiger Arbeitnehmer geworden. Heute sagt er: "Ich war damals ein Schmarotzer, aber Leute wie ich damals sind eine kleine Minderheit" - was auch Arbeitsmarktforscher immer wieder bestätigen.

Eine Reform mit Geburtsfehler

Der allergrößte Teil der Hartz-IV-Empfänger ist arbeitswillig und sucht einen Job. Nur gibt es die Stellen oft gar nicht. Oder die Qualifikation reicht nicht aus. Oder die Arbeitgeber sind nicht bereit, etwa einer 54-jährigen Sekretärin eine neue Chance zu geben. Oder die Arbeitszeiten für eine alleinerziehende Mutter passen nicht mit den Öffnungszeiten der Kinderkrippe zusammen. Das ist der Geburtsfehler von Hartz IV: Das Fördern funktioniert nicht richtig. Fast jeder zweite Hilfsbedürftige ist ein Dauerkunde der Jobcenter. Wer unten ist, bleibt oft unten.

Andererseits hat es sich eine Minderheit in der Grundsicherung bequem gemacht - da hat Sarrazin recht, auch wenn es nicht "Millionen" sind. Das System steckt voller Fehlanreize. Bislang lohnt es sich für Langzeitarbeitslose kaum, einen gering bezahlten Job mit möglichst vielen Wochenstunden anzunehmen, weil dann vom Arbeitslosengeld II weniger übrig bleibt. Hartz IV mit einem Mini-Job und womöglich Schwarzarbeit zu kombinieren, ist attraktiver.

Hinzu kommt: Das Lohnabstandsgebot stimmt nicht, weil es für Langzeitarbeitslose meist nur schlecht bezahlte Jobs gibt. Ein Mensch, der arbeitet, soll mehr Geld zur Verfügung haben als jemand, der nichts tun kann, weil er arbeitslos ist. Gerade Alleinverdiener in einer Familie mit mehreren Kindern fragen sich allerdings, ob sie wirklich 40 Stunden in der Woche hart arbeiten sollen, wenn sie als "Hartzer" das Gleiche oder nur geringfügig weniger haben.

Und auch das sollte man nicht schönreden: Hartz-IV-Familien können mit der Zahl ihrer Kinder ihr Einkommen steuern und staatliche Leistungen beziehen, selbst wenn sie ihre Kinder nicht pünktlich in die Schule schicken. Es gibt zu viele Entmutigte und Kranke, die anders als Henrico Frank wohl nie mehr auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln sind.

Ursula von der Leyen muss in den nächsten Monaten zeigen, dass sie mehr ist als die lächelnde Fachfrau für gut klingende Ankündigungen. Sie will Alleinerziehende, schlecht qualifizierte junge Menschen und die Älteren ohne Job stärker fördern. Das ist gut so. Es bleibt aber das Geheimnis der Ministerin, wie sie dies schaffen will, wenn sie gleichzeitig sparen muss, in den Jobcentern Personal abgebaut wird und die Kommunen jammern, dass zu wenig Geld für genug Kinderkrippen da ist.

Auch ihre Idee, Kinder von Hilfsbedürftigen zusätzlich mit Sachleistungen zu unterstützen, ist richtig. Nur so kommt die Unterstützung zu 100 Prozent bei den Richtigen an. Die geplante Chipkarte für Mittagessen oder Nachhilfeunterricht ist jedoch stigmatisierend, solange es die Bildungschips nicht für alle Familien gibt. Keiner weist sich gerne als Angehöriger eines Hartz-IV-Haushaltes aus. Von der Leyen wird ihre Chipkarte so wohl kaum durchsetzen können.

420 Euro wären das falsche Signal

Bei den Hartz-IV-Sätzen ist der Spielraum der Ministerin begrenzt. Das Verfassungsgericht hat die Berechnungsmethode kritisiert, nicht die Höhe. Viel wird sich deshalb nicht ändern. Die Leistung auf 420 Euro aufzustocken, wie dies manche Wohlfahrtsverbände fordern, würde den Staat jährlich nicht nur fast zehn Milliarden Euro kosten und die Zahl der Hartz-IV-Empfänger um zwei Millionen hochtreiben. Die Folgen für den Arbeitsmarkt wären verheerend, weil dies die Arbeitsmoral der Geringverdiener untergräbt. Für sie wäre es ein Signal, dass Nichtstun genauso gut ist wie Arbeiten.

Hartz IV wird vorerst die unvollendete Reform bleiben. Und jeder, der arbeitet, wird weiter hoffen, niemals dahin abzurutschen.

© SZ vom 30.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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