Chat zur Vollbeschäftigung:An die Arbeit - dalli, dalli

Lesezeit: 7 min

Vollbeschäftigung in Deutschland? Über Jahre war das undenkbar. Jetzt macht das Zauberwort die Runde, nachdem der Arbeitsmarktexperte Klaus-Jürgen Gern es auf den Markt geworfen hatte. Der Chat im Wortlaut.

Wirtschaftswunder reloaded? Vollbeschäftigung? Aber sicher doch! Was jahrelang als unvorstellbar galt, könnte schon bald Wirklichkeit werden. 2014, sagt das Institut für Wirtschftsforschung Kiel (IFW), könnte es soweit sein und das langersehnte Ziel aller Bundesregierungen endlich Wirklichkeit werden.

Vollbeschäftigung in Deutschland? Geht das? (Foto: Foto: iStockphoto / Grafik:)

Doch was heißt das eigentlich - Vollbeschäftigung? Findet jeder, der Arbeit sucht, einen Job? Nicht ganz. Ökonomen sprechen dann von Vollbeschäftigung, wenn die Arbeitslosenquote bei drei Prozent liegt. Doch selbst diese Zahl ist umstritten. Einige Wirtschaftswissenschaftler werten auch eine Quote von vier Prozent noch als Vollbeschäftigung, andere eine Quote von fünf Prozent.

IFW-Arbeitsmarktexperte Klaus-Jürgen Gern ist der Mann, der Mitte Juli das magische Wort Vollbeschäftigung mit in die Runde geworfen hat. Gemeinsam mit seinem Kollegen Carsten-Patrick Meier vom Forschungsinstitut Kiel Economics. Die These der Wissenschaftler: Im Jahr 2014 werden nur noch 1,84 Millionen Menschen ohne Job sein. Umgerechnet läge die Arbeitslosenquote dann bei 4,5 Prozent. Das wäre der niedrigste Wert seit der Wiedervereinigung. Schon jetzt wird Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) nicht müde, das Mantra von der Vollbeschäftigung gebetsmühlenartig zu predigen.

Hier der Chat zum Nachlesen:

Moderator

Hallo Herr Gern, schön, dass Sie heute für einen Chat zur Verfügung stehen.

KJ_Gern

Vielen Dank für die Einladung.

Moderator

Und hier kommt gleich die erste Frage.

Slava_M

Der aktuelle Streit über die Zuwanderung ist auf den ersten Blick schwer nachzuvollziehen: Einerseits haben wir in Deutschland nach wie vor eine hohe Arbeitslosigkeit, andererseits sollen nun sogar noch Arbeitskräfte von außen dazu geholt werden. Dieser Gegensatz lässt sich nur auflösen, wenn die benötigten Fachkräfte aus dem Heer der Arbeitslosen auf Grund falscher oder fehlender Qualifikationen nicht zu rekrutieren sind. Ist dem tatsächlich so? Wenn ja, warum ist die Lage vieler Hochschulabsolventen auf dem deutschen Arbeitsmarkt so verzweifelt?

KJ_Gern

Tatsächlich verzeichnen wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein großes Maß an Mismatch, d.h. dass die Qualifikation der Arbeitslosen mit den von den Firmen benötigten Qualifikationen nicht übereinstimmen. Dies gilt zum Teil sogar für Hochschulabsolventen, deren Lage insgesamt jedoch günstig ist; für diese Gruppe wird bereits eine geringe Arbeitslosenquote verzeichnet.

blutsbruder

Herr Gern, die Bundesagentur für Arbeit rechnet sich selbst schön. Jobsuchende in Umschulungen fallen aus der Arbeitslosenstatistik heraus, sie werden schlicht nicht mitgezählt. Wie können Sie da von Vollbeschäftigung schwadronieren? Das ist doch alles Augenwischerei! Wie sähen denn die "echten", nicht geschönten Zahlen überhaupt aus? Und wann würde dann das Ziel Vollbeschäftigung theoretisch erreicht?

KJ_Gern

Die offizielle Arbeitslosenquote gibt in der Tat nicht das volle Bild wieder. So hat die jüngste Änderung der statistischen Erfassung dazu geführt, dass die Zahl der Arbeitslosen um schätzungsweise 230000 Personen niedriger ausgewiesen wird als es nach der alten Methode der Fall gewesen wäre. Zuvor war allerdings von der Schröder-Regierung eine Änderung in Kraft gesetzt worden, die die ausgewiesene Zahl der Arbeitslosen um nahezu 1 Million erhöht hatte (in 2005, von 4 auf 5 Mill.). Es ist sehr schwer "echte" Zahlen zu berechnen, denn es kommt immer auf die Definition an. Die international standardisierte Arbeitslosenquote liegt jedenfalls unter der von der BA ausgewiesenen. Vollbeschäftigung ist ebenso eine schillernder Begriff, der sich nur schwer einer bestimmten Arbeitslosenquote eindeutig zuordnen lässt.

Moderator

Herr Gern, eine Frage: Sie reden vom Mismatch am Arbeitsmarkt. Produziert das deutsche Bildungssystem am Bedarf der Unternehmen vorbei?

KJ_Gern

Das größte Problem ist, dass das das deutsche Bildungssystem zu viele nicht oder kaum qualifizierte Arbeitskräfte produziert. Hier sind bislang kaum Fortschritte zu erkennen; die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss ist unverändert hoch, und die Qualifikation vieler Schulabgänger mit Abschluss ist ebenfalls aus Sicht der Untenehmen nicht ausreichend.

blutsbruder

Fast jeder zweite Hartz-IV-Empfänger (47 Prozent, sagt DIW-Chef Klaus Zimmermann) hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Im Durschnitt ist ein Hartz-IV-Arbeitsloser 500 Tage ohne Arbeit. Das zeigt: Das ganze System ist doch krank! Muss der Staat anstatt Unternehmen mit Kurzarbeitergeld zu sponsern nicht viel dringender das Bildungssystem umkrempeln?

KJ_Gern

Richtig ist wie gesagt, dass im Bildungssystem erheblicher Verbesserungsbedarf besteht. Dabei darf die Schule nicht isoliert betrachtet werden, es handelt sich um ein gravierendes soziales Problem, das von vielen Seiten gleichzeitig angegangen werden muss. Gleichzeitig hat sich die großzügige Kurzarbeiterregelung in der Krise als sehr hilfreich erwiesen, um Entlassungen zu vermeiden und im derzeitigen Aufschwung auf eine eingespielte Belgschaft zurückgreifen zu können. Inzwischen erscheint allerdings eine Rückkehr zu den normalen Regelungen beim Kurzarbeitergeld eher angezeigt als eine weitere Verlängerung der Sonderregelungen.

triptrap

Ist Vollbeschäftigung aus Sicht der Industrie überhaupt wünschenswert? Ein Heer von Arbeitslosen drückt die Löhne und erleichtert doch die Auswahl.

KJ_Gern

Diese Frage ist nicht relevant, denn die Arbeitgeber können sich ja nicht aussuchen, welcher Arbeitsmarktsituation sie sich gegenüber sehen. Richtig ist, dass Arbeitslosigkeit lohndämpfend wirkt; dies ist aber auch gleichzeitig ein wichtiger Mechanismus, der wieder zu mehr Beschäftigung, sinkender Arbeitslosigkeit und schließlich kräftigeren Lohnsteigerungen führt.

CaGoetz

Die Frage ist wirklich nicht frauenfeindlich gemeint, auch wenn vermutlich besonders Frauen betroffen sind ...: Es ist heute offenbar ein Ziel der Politik, möglichst vielen Eltern einerseits eine Elternzeit zu ermöglichen und sogar nahezulegen - aber sobald es geht, sollen alle zurück in den Job, während der Nachwuchs in Kitas, Kindergärten und Horten betreut wird. Wenn immer mehr Paare nach der Geburt der Kinder immer früher in den Job zurückkehren - anstatt dass Mutter oder auch Vater den Nachwuchs daheim betreuen-, wird es dadurch nicht noch enger auf dem Arbeitsmarkt? Macht dies das Ziel Vollbeschäftigung nicht noch unrealistischer, als es sowieso schon ist?

KJ_Gern

In einer Zeit, in der die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter absehbar schrumpft, ist es wichtig, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erhöhen. Es ist aus Sicht des Arbeitsmarktes auch positiv, wenn Arbeitskräfte nur kurzzeitig zur Kinderbetreuung vollständig aus dem Beruf ausscheiden, da so ihre qualifikation bestmöglich erhalten bleibt. In vielen Fällen ist es auch notwendig, dass beide Elternteile arbeiten um ein ausreichendes Einkommen zu erzielen. Von daher sind staatliche Angebote zur Kinderbetreuung zu begrüßen.

Kristoff

Sehr geehrter Herr Gern, wenn ich die Definition von Vollbeschäftigung richtig verstehe dann bedeutet Vollbeschäftigung eine Quote von unter 4% bei der offiziellen Arbeitslosigkeit. Warum bezieht man sich dabei nicht auf das Erwerbspotenzial? Ich bin der Meinung, von Vollbeschäftigung kann man nur sprechen, wenn man sich dabei auf die verfügbare Arbeitskraft in Vollzeitstellen bezieht. 9 Millionen Menschen, die teilweise eine Beschäftigung haben würden würden gerne mehr arbeiten. Bei solchen Zahlen von Vollbeschäftigung zu sprechen ist doch Augenwischerei, oder sehen Sie das anders?

KJ_Gern

Die Umfragen zur gewünschten Arbeitszeit bei Teilzeitkräften sind mit Vorsicht zu genießen. Der in Deutschland zu verzeichnende Trend steigender Teilzeittätigkeit geht einher mit einer stegenden Erwerbsquote bei Frauen und auch älteren Menschen. Insgesamt erleichtert die Teilzeitarbeit das Ausschöpfen des Erwerbspersonenpotentials. In dem Maße, wie sich mit fortgesetztem wirtschaftlichen Aufschwung die Beschäftigungsperspektiven verbessern, bieten sich dann auch für Personen, die eine ungewünscht geringe Stundenzahl arbeiten, Möglichkeiten, ihre Situation zu verbessern. Von Vollbeschäftigung zu sprechen, erscheint tatsächlich nicht sinnvoll, wenn ein erheblicher Teil der Beschäftigten weniger als gewünscht arbeit.

python11reloaded

Herr Gern, wenn Sie von Vollbeschäftigung reden, meinen Sie dann tatsächlich Vollzeitjobs, von denen die Menschen auch leben können? Vollbeschäftigung ist ja auch bei einer sinkenden Bevölkerungszahl ziemlich unwahrscheinlich aufgrund des Rationalisierungszwanges der Unternehmen, werden doch tendenziell immer mehr Arbeitsplätze vernichtet als gleichzeitig neue geschaffen... Moderator Die Frage geht in die gleiche Richtung - vielleicht können Sie mehr auf den zweiten Teil eingehen.

KJ_Gern

Der Eindruck, dass mehr Arbeitsplätze vernichtet werden als entstehen, trügt. Die Zahl der Erwerbstätigen und auch das Arbeitsvolumen, also die Zahl der Arbeitsstunden, steigt auch in Deutschland im Trend an. Die Frage der Auskömmlichkeit von Arbeitseinkommen hängt nicht nur mit der Teilzeitarbeit sondern auch mit der Tatsache zusammen, dass wir gerade im Bereich geringer Qualifikation mehr Arbeitssuchende als Arbeitsplätze haben (Mismatch). Dies drückt das Lohnniveau in diesem Segment, lässt sich aber nur um den Preis höherer Arbeitslosigkeit bei Geringqualifizierten verhindern oder aber durch bessere Ausbildung (siehe oben).

BeckyThatcher

In welchen Bereichen rechnen sie mit neuen Jobs, wenn ihre Prognose sich erfüllen sollte, dass in Deutschland in ein paar Jahren Vollbeschäftigung herrschen soll?

KJ_Gern

Hier möchte ich doch kurz darauf hinweisen, dass die in der Einführung zu diesem Chat genannten Zahlen und Prognosen von meinem Kollegen Carsten-Patrick Meier stammen. Am Institut für WEltwirtschaft halten wir die dort skizizierte Entwicklung zwar für in der Tendenz wahrscheinlich, aber doch für etwas optimistisch. Arbeitsplätze werden wie in der Vergangenheit vor allem im Dienstleistungsbereich entstehen. Absehbar ist der steigende Bedarf bei den sozialen Diensten. Die Industrie ist zwar im Moment im Aufschwung; auf längere Sicht werden dürften aber hier wohl eher Arbeitsplätze abgebaut werden, der momentan befürchtete oder bereits beklagte Fachkräftemangel resultiert zum großen Teil daraus, dass ausscheidende Arbeitnehmer nur schwer ersetzt werden können.

Kristoff

Herr Gern, wie ich sehe stimmen Sie mir zu, daß es angesichts eines hohen ungenutzten Arbeitskräftepotenzials nicht sinnvoll ist, von Vollbeschäftigung zu sprechen. Welchem Zweck dient dann Ihrer Meinung nach die Debatte über Vollbeschäftigung bzw. der Ruf nach Zuwanderung ausländischer Fachkräfte? Sollte nicht zunächst im Inland vorhandenes Potenzial besser genutzt werden? Wie soll dies erreicht werden wenn die Bundesregierung die arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Arbeitslosenverwaltung zusammenstreicht anstatt hier mehr in die Weiterbildung zu investieren?

KJ_Gern

Ich stimme Ihnen zu, dass derzeit nicht von Vollbeschäftigung gesprochen werden kann. Auch erscheint es mir, wie gesagt, zentral das inländische Arbeitskräftepotenzial besser auszuschöpfen. Dies erscheint mir bei zukünftigen Arbeitskräften (also den Kindern) noch leichter als bei denen, die bereits in unserem Arbeitsmarkt sind. Hier gibt es zweifellos einen Personenkreis, der nur sehr schwer zu mobilisieren ist. Es ist aber wohl auch Augenwischerei zu glauben, kurzfristig den Bedarf an Fachkräften in der Wirtschaft durch Weiterbildung mittels Kursen bei den Arbeitsagenturen decken zu wollen. Wir müssen zwischen kurzfristigen Engpässen in gewissen Segmenten des Arbeitsmarkts und der Gesamtsituation am Arbeitsmarkt unterscheiden.

Moderator

Hallo Herr Gern, wir haben noch sehr viele Fragen offen, aber da die vereinbarte Zeit fast abgelaufen ist, kommt hier die letzte.

wotcom

Guten Tag Herr Gern, in Deutschland gibt es zur Zeit 9 Millionen (9.000.000) Menschen die arbeiten oder mehr arbeiten wollen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das geht aus einer Studie der Hans-Böckler Stiftung hervor. Meine Fragen an Sie daher

1. Wie schätzen Sie Situation dieser Menschen ein?

2. Wie könnnen Sie ernsthaft Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel annehmen, wenn mehr als 20 Prozent der abhängig Beschäftigten Heute auf der Suche nach Arbeit sind? Zudem bitte ich einen Beleg für diese für mich erschreckende und fast ungeheuerliche Aussage: "dass das das deutsche Bildungssystem zu viele nicht oder kaum qualifizierte Arbeitskräfte produziert."

3. Wie können Sie diese Behauptung belegen? Vielen Dank für Ihre Mühe.

Mit freundlichem Gruß

KJ_Gern

zu 1. Die Situation von Menschen, die arbeiten wollen und nicht arbeit können oder mehr arbeiten wollen als sie können ist zweifellos unbefriedigend. Der Umfang des Problems ist allerdings schwer abzugreifen. Es gibt auch viele Menschen, die mehr arbeiten als sie es wünschen (zumindestens geben sie das an). Umfrageergebnisse müssen genau geprüft werden, inwieweit die Antworten durch die Fragen beeinflusst sind.

2. Fachkräftemangel kann durchaus bestehen, wenn viele Menschen Arbeit suchen, die die notwendigen Qualifikationen aber nicht haben.

3. Es ist unbestreitbar, dass nach wie vor eine große Zahl an Schulabgängern keinen Abschluss erreicht hat; dies ist insbesondere bei Jugendlichen mit Mirgrationshintergrund der Fall. Die unzureichende Qualifikation auch von Schulabgängern wird von vielen Unternehmen seit längerem beklagt. Ein Indiz ist auch, dass viele Ausbildungsberufe, die früher durch Hauptschüler besetzt wurden, heute zumeist von Realschulabsolventen besetzt werden.

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