WM 2010: Presseschau:... tanzen die Mäuse auf dem Tisch

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Die Presse spekuliert über die Rückkehr von Kapitän Michael Ballack und sorgt sich um Thomas Müller. In China zeigt die WM indes ungewohnt kosmopolitische Wirkung.

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"Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch", schreiben Lars Wallrodt unf Lars Gartenschläger in der Berliner Morgenpost über die Rebellion des Aushilfskapitäns Philipp Lahm. (Foto: dpa)

Für Michael Rosentritt (Tagesspiegel) legt Müller die Seele des deutschen Spiels frei: "Thomas Müller ist für diese Mannschaft mehr als nur ein talentierter Spieler, der einen Lauf erwischt hat und ein Tor ans andere reiht. Es sind andere Szenen, die über Müllers Wert Auskunft geben. Wie jene gegen Mitte der zweiten Halbzeit, als er in der schwierigsten Spielphase für die Deutschen den entscheidenden Pass auf Podolski gab, der wiederum Klose das 2:0 in den Fuß legte. Halb im Sitzen, halb im Liegen verlieh Müller dem Ball den nötigen Dreh." Zu diesem Zeitpunkt hatte Müller seine gelbe Karte bereits bekommen. Nicht wenige Spieler hätten sich in solch ein Schicksal ergeben, schreibt Rosentritt. "Müller aber spielte weiter, als hätte es diese Gelbe Karte nie gegeben. Im Gegenteil. Nicht er, sondern die Mannschaft spielte für ein paar Minuten wie benebelt, ja geradezu so, als wäre sie gesperrt fürs Halbfinale. Müller aber spielte sein Spiel weiter, und riss dabei die anderen mit."

Nach den deutschen Erfolgen ist der "größte deutschen Fußball-Versteher"Joachim Löw für Michael Horeni (FAZ) so stark geworden, wie außer Franz Beckenbauer kein Bundestrainer vor ihm. "Wenn Joachim Löw auf der Pressekonferenz sagen würde, Deutschland wird Weltmeister, dann würde in Berlin schon jetzt die Fanmeile für den Empfang mit dem Weltpokal vorbereitet. Denn an seinen Worten wird in Deutschland in diesen Tagen nicht mehr gezweifelt." Die DFB-Funktionäre um Zwanziger, so Horeni, würden immer älter, unwichtiger und ferner erscheinen, je besser und unwiderstehlicher Löws Mannschaft auftrete. Der Bundestrainer habe dank der neuen Spielweise viel mehr Autorität als noch vor zwei Jahren, was Horeni auch mit den Konflikten um Kuranyi, Frings und Ballack verknüpft: "Löw denkt seine Entscheidungen vom Ende her, vom spielerischen Ende. Kuranyi konnte er ersetzen, Frings auch. Die Alternativen hat Löw mit den jungen Spielern, die er nominierte, viel früher erkannt als wohl alle anderen. Man kann sagen, dass sie seine Möglichkeiten entscheidend erweitert haben, so zu entscheiden, wie es sein Fußball-Verstand schon immer sagte, aber das Personal lange nicht hergab."

Rebellion gegen den Capitano

Lars Wallrodt und Lars Gartenschläger (Berliner Morgenpost) sehen in Philip Lahms Bekenntnis zur Kapitänsbinde einige Brisanz, "denn Lahm ist nicht Kapitän der deutschen Mannschaft. Er ist Ersatzkapitän für Michael Ballack, den verletzten 'Capitano'. Es wird das Selbstverständnis des 33-jährigen Neu-Leverkuseners sein, dass er nach seiner Genesung in die Eliteauswahl des Deutschen Fußball-Bundes zurückkehren will. Und er wird dies nicht als Mitläufer tun, sondern als Mannschaftsführer. "Es möge Zufall sein, so Wallrodt und Gartenschläger, dass Ballack ausgerechnet zu der Zeit unvermittelt aus dem Mannschaftsquartier abreiste, aber es passe ins Bild: Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.

Boris Herrmann (Berliner Zeitung) sieht den Ursprung der heutigen deutschen Mannschaft im verlorenen EM-Finale vor zwei Jahren: "Am Anfang stand die Erkenntnis. Dann wurde daraus ein Leitbild. Dann setzte Löw wie angekündigt die Feile an und schuf nach und nach ein Kunstplagiat. Und jetzt trifft diese deutsche Mannschaft, die als Kopie der Spanier von 2008 angelegt ist, im WM-Halbfinale auf das Original." Mittlerweile, so Herrmann, würden die Deutschen weltweit sogar für die besseren Spanier gehalten. "Während das Team von Vicente del Bosque noch nach seiner Alpenform sucht, haben die Deutschen mal eben 13 Tore geschossen und die ganze Welt verzückt. Sie sind schnell, hungrig und ballsicher. Es ist erstaunlich, wie dieses Team der spanischen EM-Auswahl gleicht. Und es ist noch viel erstaunlicher, dass Löw dafür nur zwei Jahre gebraucht hat."

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Während Deutschland als neues Spanien gefeiert wird, nimmt Holland für Stephan Ramming (Neue Zürcher Zeitung) den Platz der Deutschen ein. "Vielleicht wird es ja zu einer Ironie dieses Turniers, dass sich Holland mit jenen Tugenden in das Finale kämpft, die es stets im großen Rivalen Deutschland erkannt und missbilligt zu haben glaubt - mit Zähigkeit, Wille, Glück und nötigenfalls auch mit der Brechstange. Selbstverständlich jubelt Holland über einen Sieg gegen Brasilien, selbstverständlich feiert Holland eine Qualifikation für ein WM-Halbfinale - aber eigentlich steht Holland für 'voetbal total'; für eine Spielauffassung, die Schönheit, Tempo und Dominanz mit Leichtigkeit paart. Nach dem 1:0-Sieg gegen Japan im letzten Spiel der Gruppenphase, die mit 9 Punkten und 5:1 Toren beendet worden war, wurde van Marwijk mit dem Vorwurf des 'saai voetbal', des 'langweiligen Fußballs', konfrontiert", schreibt Ramming.

Bei Bayern München nennen sie ihn den Deutschen - für Ronny Blaschke (FTD) ist Mark van Bommel der Schlüssel zu Hollands Erfolg. "Wenn sich der Verkehr auf dem Rasen staut, wenn die Spieler aus allen Ecken herbeieilen, sie ihren Zorn an Schiedsrichter oder Gegner auslassen, dann sorgt Mark van Bommel für geordnete Verhältnisse. Dann schiebt er seine Kollegen zur Seite, geht auf den Unparteiischen zu und übernimmt das Wort - wie ein Schulsprecher in der Hofpause. In diesen Szenen sieht man, wie wertvoll der 33-Jährige für das niederländische Team ist. Es lässt sich erahnen, warum sie ohne ihn wohl weiterhin beharrlich einem fatalen Prinzip folgen würden: schön kombinieren, schön treffen, schön scheitern."

Trotzige Uruguayer hat Florian Haupt (Berliner Zeitung) erlebt. Trainer Tabárez habe sich sehr geärgert "über den steil erhobenen Zeigefinger mancher Europäer, die ihn fragen, ob es den Uruguayern nicht peinlich sein sollte, dass sie im Halbfinale stehen. Wegen dem Handspiel von Suarez." Aber: "Uruguays Trainer spreche lieber über Themen wie die Veränderungen des Weltfußballs im Zuge der Globalisierung, 'die organisierte wirtschaftliche Macht' der Europäer, deren massenhafte Rekrutierung von immer jüngeren Spielern aus Südamerika. All das mache den Erfolg seines kleinen Landes bei diesem Turnier noch spezieller."

Die Fifa gegen die Politik

"Don't mix politics with games" lautet das ironische Motto von Jens Weinreichs Webseite. Dieser Thematik nimmt er sich nun bezogen auf die Fußball-WM an. Im Zuge des Konflikts mit Nigerias Regierung beschreibt Jens Weinreich für den Deutschlandfunk das zwiespältige Verhältnis der Fifa zur Politik. So habe diese "dem Massenmörder Robert Mugabe erlaubt, vor der WM auf der so genannten World Cup Trophy in Simbabwe mit dem goldenen WM-Pokal zu posieren. Doch wenn sich Staatschefs und Politiker so in die Belange von Fußballverbänden einmischen, dass es der Fifa nicht gefällt, werden Sanktionen angekündigt. Dann heißt es, Politik habe mit Sport nichts zu tun." Fragen zum Disput zwischen dem französischen Verband und der Fifa seien bei Blatter zudem unerwünscht. "Zuvor hatte Blatter pauschal all jene Politiker gelobt, die derzeit die WM-Tribünen bevölkern. Dies sei ein Zeichen der Bedeutung des Fußballs. Man wolle nur gute Nachrichten hören, erklärte Blatter allen Ernstes."

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Über die große Begeisterung der chinesischen Fußballfans wundert sich Mark Siemons (FAZ). "Die deutsche Mannschaft als Muster eines triumphierenden Kollektivismus, wie ihn China sonst gern für sich selbst in Anspruch nimmt: Das war der bisherige Höhepunkt des Rauschs, in den sich ganz China während dieser Weltmeisterschaft hineingesteigert hat. Der Enthusiasmus für Fußball ist umso bemerkenswerter, als die Chinesen die eigene Nationalmannschaft - die auf dem 85. Platz der Weltrangliste rangiert - wegen deren chronischer Erfolglosigkeit und Korruptionsanfälligkeit zugleich aus tiefstem Herzen verachten." Die Begeisterung für Brasilien, Spanien oder neuerdings Deutschland wecke jedoch einen selten reinen Internationalismus in einer Gesellschaft, die die Weltereignisse sonst meist zuerst auf die eigene Befindlichkeit beziehe. "Sechzehn Prozent der Zuschauer der Fernsehübertragungen in der ganzen Welt sollen Chinesen sein; in keinem anderen Land gebe es mehr Fußballfans, heißt es in den hiesigen Medien. Entsprechend groß ist das Geschäft: Der Sportkanal CCTV 5, der sich die Übertragungsrechte für sämtliche Spiele der WM in Südafrika sicherte, verzeichnet laut Staatsmedien eine Milliarde Yuan (also mehr als hundert Millionen Euro) Werbeeinnahmen."

Lizenz zum Gelddrucken

Über die "ratternde Profitmaschine" Fußball-WM berichtet Johanna Herzig (Deutschlandfunk). "Sechs Hersteller, darunter die Giganten Adidas und Nike, haben die 32 teilnehmenden Fußball-Mannschaften ausgestattet. Doch mit Trikots, Hosen und Stutzen ist es nicht getan: Rund 85 Millionen Euro jährlich zahlt beispielsweise Adidas an die Fußball-Verbände der Mannschaften, die man als Werbeträger auserkoren hat. Dazu kommen die Kosten für die offizielle Partnerschaft mit der Fifa: acht Jahre läuft der Vertrag, macht noch mal rund 260 Millionen Euro." 1974 sei Adidas mit der Fifa einen "faustischen Pakt"eingegangen. Damals sei Adidas-Mann Horst Dassler als Königsmacher aufgetreten "und verhalf Joao Havelange zum Fifa-Chefposten, wobei nach Recherchen des Journalisten Andrew Jennings eine Menge Schmiergeld geflossen sein soll. (...) 1983 gründete Horst Dassler das Vermarktungs-Unternehmen ISL, das die Fernsehrechte von der Fifa abkaufte, um sie anschließend gegen gutes Geld an die Sender weiterzugeben", so Herzig. "Die Fußball-Weltmeisterschaft, sie ist ein Goldesel, der vielen Herren dient und wohl auch in Zukunft stets gut gefüttert wird - und zwar vom Verbraucher."

Presseschau zusammengestellt von Daniel Drepper.

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