Türkischer Fußball in der Krise:Immerhin steht der Schuldige fest

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Der Manipulationsskandal um Meister Fenerbahce Istanbul, eine seit Jahren mangelhafte Jugendarbeit, Spieler fern jeder internationalen Klasse: Nicht erst seit dem 1:3 gegen Deutschland hat der türkische Fußball Probleme. Doch wieder einmal soll der Trainer an allem Schuld sein.

Thomas Hummel, Istanbul

Guus Hiddink wirkte angriffslustig. Seine Mannschaft hatte gerade 1:3 gegen Deutschland verloren, und der Fußballlehrer aus Varsseveld in den Niederlanden ahnte wohl, dass sich unter der versammelten türkischen Presse kaum jemand finden würde, der in seinen Berichten einen versöhnlichen Halbsatz über ihn schreiben würde. Die Türkei war deutlich unterlegen gewesen, die Qualifikation zur Europameisterschaft 2012 ist unsicherer denn je.

Die türkische Öffentlichkeit hat den Sündenbock für die deutliche Niederlage gegen die DFB-Elf gefunden: Es ist Trainer Guus Hiddink. (Foto: dapd)

Am Dienstag muss die Mannschaft in der neuen Arena in Istanbul gegen das Team aus Aserbaidschan von Trainer Berti Vogts gewinnen und gleichzeitig dürfen die Belgier nicht in Deutschland siegen, um noch die Relegation zu schaffen. Das ist nicht das, was sich die türkischen Fans erwartet hat - und der Schuldige saß vorne vor dem Mikrofon: der Trainer. Wer sonst?

Nun ist der 65-jährige Hiddink schon lange im Geschäft, er hielt sich nicht lange auf mit Nachfragen, warum er Selcuk Inan von Galatasaray in der Halbzeit auswechselte und Hamit Altintop, der bei Real Madrid kaum spielt, nicht. Hiddink ließ sich keineswegs in die Defensive drängen, sondern blies im Gegenteil zum Generalangriff.

"Vernichtungsplan" gegen die Deutschen

Erst einmal verdeutlichte er seinen Sachverstand: "Man hat mir vor dem Spiel Pessimismus vorgeworfen", sprach er. Hiddink hatte vor der Partie Deutschland als "gewaltigen Gegner" beschrieben, gegen den ein Punkt schon sehr gut sei. So etwas mögen die stolzen Türken nicht. Mehrere Zeitungen wollten daraufhin Hiddinks These widerlegen und beschrieben mögliche Schwächen der deutschen Mannschaft. So schrieb die Sportzeitung Fanatik von einem "Vernichtungsplan", mit dem den Deutschen beizukommen wäre. Worin dieser bestünde, blieb etwas im Vagen. Doch selbstverständlich würde der Plan umgesetzt werden und den Sieg bringen.

"Ich war nicht pessimistisch, sondern realistisch", antwortete nun Hiddink nach der Partie. "Wenn man die Stärke der beiden Mannschaften anschaut, ist das ein normales Ergebnis." Der Niederländer ging weiter: "Da kann man viel lernen, wie wir unseren türkischen Fußball betrachten müssen."

Es ist selbst vom größten türkisch-nationalen Fanatiker nicht mehr von der Hand zu weisen, dass der Fußball in der Türkei eine Krise durchläuft. Da ist einerseits der Manipulationsskandal um Meister Fenerbahce. Noch immer sitzt Präsident Aziz Yildirim in Haft, im Zuge des Verfahrens wurden 30 Spieler und Offizielle vorrübergehend verhaftet, der Verband musste schließlich Fenerbahce auf Druck der Uefa aus der Champions League nehmen.

Die Turbulenzen in der Liga sind aber nur der sichtbarste Teil der Misere. Der türkische Fußball leidet unter einem Mangel an qualifizierter Jugendarbeit. Vor allem die enorm einflussreichen Großklubs in Istanbul vernachlässigen seit vielen Jahren den Nachwuchs. So ist Erdal Keser, 50, derzeit der wichtigste Mann für die Nationalmannschaft. Keser ist Europa-Beauftragter des türkischen Verbands mit einem Büro in Köln und sichtet zusammen mit 25 Scouts Spieler mit türkischen Wurzeln, die für die Nationalmannschaft gewonnen werden sollen. Zuletzt gelang das beim Leverkusener Verteidiger Ömer Toprak, der am Dienstag im letzten Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan erstmals auflaufen könnte.

Die DFB-Elf in der Einzelkritik
:Mit Bierruhe im Lärm

Torhüter Manuel Neuer spielt im lauten Gebrüll Istanbuls wie einst der "Hexer" im Handball, Bastian Schweinsteiger verwandelt mit großer Gelassenheit einen Elfmeter und Thomas Müller ruckelt über den Platz wie ein türkischer Stadtbus. Die deutsche Auswahl in der Einzelkritik.

Thomas Hummel, Istanbul

Auf Keser warten aber jetzt erst die reizvollen Fälle. Bei der deutschen U17-Mannschaft, die im Sommer WM-Dritter wurde, standen einige Deutsch-Türken mit großer Perspektive im Team: Emre Can vom FC Bayern, Samed Yesil aus Leverkusen, der Bremer Levent Aycicek oder Kaan Ayhan vom FC Schalke 04.

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Thomas Hummel, Istanbul

Die in Deutschland ausgebildeten Spieler könnten der türkischen Mannschaft einige Qualitäten verleihen, die in dem riesigen Land einfach nicht gelehrt werden. Zum Beispiel taktische Disziplin. "Bei 0:1 weiß ich: Dann regiert die Emotion", erklärte Trainer Hiddink, "dann muss in der nächsten Minute der Ausgleich her und einige Spieler verlassen ihre Positionen." Doch im internationalen Spitzenfußball müsse man "kühlen Kopf" zeigen, sonst werde man von einer starken deutschen Mannschaft ausgespielt. Zudem glaubt der Niederländer, dass seine Spieler auch athletisch nicht auf der Höhe der Elite sind. "Wir brauchen zu viele Pausen", kritisierte er.

"Aus dieser Elf kann man nicht mal Zaziki machen"

Trotz aller Argumente folgte am Tag nach der Niederlage, was folgen musste: "Go home, Hiddink!", titelte die Zeitung Takvim auf Englisch und Hürriyet meint: "Der Koch ist nicht der richtige. Die Rechnung muss Hiddink bezahlen." Immerhin sah die Zeitung Star auch in den Spielern einen Grund für die Niederlage: "Aus dieser Elf kann man nicht mal Zaziki machen."

Sollte Hiddinks Expertise zutreffen, leben die türkischen Hoffnungen auf die EM 2012 trotz aller Missstände weiter. Er glaubt fest daran, dass Deutschland am Dienstag gegen Belgien "nichts weggeben wird" und seine Mannschaft in der Lage ist, Aserbaidschan zu besiegen. Sollte dann auch die Relegation erfolgreich bestritten werden, forderte er vor der EM gleich fünf Wochen Vorbereitungsszeit mit der Mannschaft ein.

Wenn es dann wieder nicht klappt mit einem Sieg etwa gegen Deutschland, dürfte der Schuldige allerdings schnell gefunden werden.

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