Spanien:Spanien spielt zynischen Fußball

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Einer von zwei Abwehrbrechern: Sergio Ramos von Real Madrid. (Foto: dpa)
  • Seit 600 Minuten hat Spanien bei einer Europameisterschaft kein Gegentor mehr kassiert.
  • Das liegt an der hohen Verteidigung, aber auch am Duo Sergio Ramos und Gerard Piqué, die gegen die Türkei zum 74. Mal die Innenverteidiung bilden werden.
  • Alle Ergebnisse und Tabellen der Fußball-EM finden Sie hier.

Von Javier Cáceres, Paris

Man muss wahrscheinlich verrückt sein, den Spaniern einen defensiven Fußball zu unterstellen. Verrückt wie René "El Loco" Housemann, ein einstiger argentinischer Außenstürmer, der 1978 Weltmeister wurde und unter anderem deshalb für verrückt gehalten wurde, weil er ein Poet des Balles war. Vor allem aber, weil er schon mal ein Profispiel vergaß, um mit den Kumpeln von einst auf dem Bolzplatz zu kicken und von seinem Trainer César Luis Menotti eingesammelt werden musste. Oder weil er vor den Spielen, nicht erst danach, unter die dann möglichst kalte Dusche gestellt werden und mit Kaffee reanimiert werden musste. Es kommt ja immer eins zum anderen, mitunter auch das eine oder andere Getränk.

Seit sechs EM-Endrundenspielen ist Spanien ohne Gegentor

Housemann jedenfalls, als Fußballer längst pensioniert und nunmehr 62 Jahre alt, hat eine Theorie entwickelt, derzufolge es eine Mär sei, dass der moderne Fußball offensiv sei. Dass die Zahl der Tore gestiegen sei, hält er für eine irreführende Statistik, die zu Trugbildern führe. "Es sieht nur so aus, als wäre der Fußball offensiver. Er ist defensiver denn je. Es wird jetzt bloß nach vorne verteidigt, und weil alle immer mehr rennen, hat es nur den Anschein, dass angegriffen wird. Aber es ist nicht so."

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Es gibt Daten, die als Argument dafür dienen können, dass es sich lohnt, auch auf Verrückte zu hören. Tatsächlich gilt keine Mannschaft als offensiver als die spanische, seit Jahren schon. Andererseits: Bei ihrem EM-Auftaktspiel rissen die Spanier durch ihren 1:0-Sieg gegen die Tschechische Republik einen Rekord an sich, den die Italiener gerne hätten. Seit sechs EM-Endrundenspielen ist Spanien ohne Gegentor, eine derartige Serie hat in der Geschichte der EM keine andere Mannschaft aufzuweisen. Vor ihrer zweiten Partie der laufenden EM, an diesem Freitag in Nizza gegen die Türkei, können die Spanier auf 599 Minuten ohne Gegentor zurückblicken.

Der letzte Fußballer, der gegen die Spanier erfolgreich war, war der mittlerweile auch schon 38 Jahre alte Antonio Di Natale. Er erzielte beim EM-Auftaktspiel der EM 2012 den italienischen Treffer zum 1:1. Gewiss, es gab die WM 2014, wo Spanien erst gegen die Niederlande (1:5) sowie Chile (0:2) verlor, was den 3:0-Sieg gegen Australien wertlos machte. Andererseits: Bei der WM 2010 schaffte es Spanien, die letzten vier Spiele des Turniers, das Finale gegen die Niederlande inklusive, 1:0 zu gewinnen - so wie am Montag gegen die Tschechen. Wären sie Italiener, würde man sagen: Calcio cinico. Zynischer Fußball. Doch im Falle der Spanier wäre das eher ein süßer Zynismus. Denn sie verteidigen sich mit dem Ball, durch erdrückenden Ballbesitz.

"Sie engen ihre Gegner richtig ein, die kommen gar nicht richtig hinten raus", sagt Stefan Lichtsteiner, der Kapitän der Schweizer Nationalmannschaft, die bei der WM 2010 überraschend gegen Spanien gewann, und der bei Juventus Turin die italienische Defensivkultur aufgesogen hat. "Es ist schon extrem, wo die Innenverteidiger Sergio Ramos und Gerard Piqué stehen: 20 Meter in der gegnerischen Hälfte drin, extrem aggressiv, lesen das Spiel sehr gut. Wenn man den Gegner so einschnürt, findet sich irgendwann der Fehler, das Loch. Die Gegner werden müde vom Verteidigen. Die Italiener stehen viel weiter hinten und machen dort die Räume sehr eng. Aber das ist ein ganz anderer Fußball."

Andererseits: Vicente del Bosque, der die Spanier seit 2008 coacht, ist ein weit konservativerer Trainer, als es den Anschein hat. Bei dieser EM ist er, wegen des Nationalmannschaftsrücktritts von Xabi Alonso, davon abgekommen, zwei defensive Mittelfeldspieler aufzustellen; vor der Abwehr operiert nun Sergio Busquets allein, bei gegnerischem Ballbesitz allerdings assistiert von Cesc Fábregas. Del Bosque gab vor dem Turnier eine Maxime aus, die Huub Stevens beim FC Schalke 04 popularisierte: Die Null muss stehen. Zugute kommt Del Bosque die Kontinuität in der Innenverteidigung. Sergio Ramos und Piqué werden gegen die Türkei zum 74. Mal ein Innenverteidigerpärchen bilden. Sie dürfen getrost zu den besten Spezialisten der Branche gezählt werden und sind in blendender Verfassung. Doch selbst das Personal ist relativ.

Denn dass Verteidigung der beste Angriff und vor allem das bessere System ist, lässt sich auch an den Mannschaften ablesen, die Pep Guardiola trainiert hat. In seinen sieben Trainerjahren beim FC Barcelona und dem FC Bayern waren seine Mannschaften durchweg die Teams mit den wenigsten Gegentoren.

"Mit einer Verteidigung, die 40 Meter nach vorne gezogen war, hat der FC Bayern mit 17 Gegentreffern den Rekord der Bundesligagesichte gebrochen - und das ohne geborene Innenverteidiger und trotz Verletzten. Pep hat Kimmich, Alaba und sogar Rafinha als Innenverteidiger erfunden", sagte Guardiola-Assistent Domenech Torrent in einem Interview der Zeitung Ara.

Dass die Defensiv-Idee der Spanier bei der EM funktioniert, lässt sich auch am "Gefährlichkeitsindex" ablesen, den die Softwarefirma SICS für das italienische Blatt La Gazzetta dello Sport erstellt. Dieser Index addiert Chancen, Schüsse, Flanken und Ecken, die ein Team heraufbeschwört beziehungsweise erleidet, und leitet aus der Differenz eine Siegwahrscheinlichkeit ab. In der Offensive kam Spanien gegen Tschechien auf einen Wert von 96; nur Portugal kam dieser Zahl beim Unentschieden gegen Island nahe (95). England landete bei seinem Remis gegen Russland mit 85 auf Rang drei.

In der Defensive lag England vorne (19), vor Spanien (22) und Portugal (23). Die Differenz ergab für Spanien einen Wert von 74, für Portugal 72 und England 66. Zum Vergleich: Deutschland kam gegen die Ukraine offensiv auf einen Wert von 71, defensiv auf 33. Damit steht Deutschland offensiv wie defensiv an sechster Stelle. Bei der Differenz liegt Deutschland auf Rang fünf. Was sich allerdings nicht ganz so verrückt lesen dürfte.

© SZ vom 17.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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