Nachwuchsförderung im deutschen Fußball:Motzki Sammer meint es bitterernst

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Trotz der Euphorie um den deutschen Nachwuchsfußball ist einer nicht zufrieden: "Die Entwicklung ist nicht in allen Bereichen auf einem guten Weg", sagt DFB-Sportdirektor Matthias Sammer. Ihn stört gewaltig, dass Liga und DFB sich gegenseitig vorwerfen, junge Talente zu verschleißen. Im Zentrum steht die Frage, wer die eigentliche Nachwuchsarbeit leistet.

Christof Kneer

Bei fast allen Bundesligisten werden die Trainingspläne inzwischen kurzfristig verfasst, meist erfahren die Profis erst sonntags, wann sie nächste Woche einmal und wann zweimal täglich antreten müssen und wann sie frei haben.

Matthias Sammer will den Konflikt zwischen den Vereinen und dem DFB in Gesprächen befrieden. (Foto: dpa)

Besonders unübersichtlich ist die Planung der näheren Zukunft für Spieler der Jahrgänge 1993/1994. Sie müssen bei der Herausgabe des Dienstplans doppelt aufpassen, dass sie nicht mit ihren Terminen durcheinanderkommen. Emre Can zum Beispiel muss immer zwei Spalten im Blick haben - die eine, in der die Trainingszeiten der Profis des FC Bayern stehen; und die andere, in der sich die Zeiten der klubeigenen U23 finden.

Can ist gerade 18 geworden, er hat einen Körper wie ein 26-Jähriger, und manchmal muss er lesen, er sei "der neue Ballack" oder, wahlweise, "der neue Kroos". Wie ihm ergeht es auch Mitchell Weiser (Köln), Rani Khedira (Stuttgart) oder Samed Yesil (Leverkusen), die bei ihren Klubs einen regen Pendelverkehr zwischen A-Junioren, U23 und Profi-Abteilung betreiben.

Im Zuge der Übersichtlichkeit ist es womöglich von Vorteil, dass die jungen Profis wenigstens ein paar Eckdaten schon jetzt genau kennen. Emre Can weiß bereits, dass er am 2. und 3. April weder bei Bayerns erster noch bei Bayerns zweiter Mannschaft trainieren wird; er ist dann beim DFB, bei einem Leistungstest der U19-Junioren. Und Samed Yesil kann in Leverkusen schon mal Bescheid sagen, dass er vom 2. bis 5. April nicht zum Training kommen kann. Er hat einen Termin in Teistungen, beim Lehrgang der U18-Junioren des DFB.

Der deutsche Fußball ist zuletzt ausführlich besungen und beklatscht worden. Es gab ja auch viele gute Gründe dafür, zum Beispiel die Aufgebote der A-, U21-, U20-, U19-, U18-, U17-, U16- und U15-Nationalteams, die so randvoll sind mit Talenten, dass man fast behaupten könnte, der deutsche Fußball sei auf Jahre hinaus unschlagbar.

Das hat Franz Beckenbauer gesagt, im Sommer 1990. Und was sagt Matthias Sammer, der Sportdirektor des DFB, im Februar 2012? Er sagt: "Ich finde, die Entwicklung im deutschen Nachwuchsfußball ist nicht in allen Bereichen auf einem guten Weg."

Matthias Sammer kennt sein Image, er weiß, dass jetzt viele sagen werden: Der Sammer wieder! Muss der wieder den Motzki machen! Aber es ist ihm bitter ernst mit seiner Analyse. An diesem Sonntag wird sein Verband die U19- und U18-Junioren zu dreitägigen Lehrgängen in die Sportschulen Ruit und Kaiserau einberufen, und Sammer missfällt der Tonfall, der solche Maßnahmen neuerdings wieder begleitet: "Ich stelle fest, dass wir inzwischen wieder mehr über- als miteinander reden, ich erkenne eine Tendenz wie vor fünf, sechs Jahren, als ich beim DFB angefangen habe."

Mit "wir" meint er einerseits die Klubs, die ihre jungen Spieler oft nur grummelnd auf Reisen schicken, weil sie diese Zusatzbelastungen durch den DFB "absurd hoch" finden, wie der in der Branche geschätzte Leverkusener Sportmanager Michael Reschke stellvertretend sagt - Sammer meint aber auch seine eigenen Junioren-Trainer beim DFB, die das Liga-Grummeln mit Gegengrummeln erwidern. "Es darf nie heißen: Der liebe DFB und die bösen Klubs", sagt Sammer, "es stört mich genauso, wenn unsere Trainer sich über die Vereine aufregen. Es darf nicht um Eitelkeiten gehen, sondern um die beste Lösung für die jungen Spieler."

Es ist Sammers Jobverständnis, dass zu seiner Sportdirektoren-Stelle zwingend auch dieses Profil gehört: sich im Zweifel unbeliebt zu machen. "Ich bin für Nachhaltigkeit und Qualitätssicherung verantwortlich", sagt er, "und da gehört es zu meinen Aufgaben, auch mal entgegen der allgemeinen Euphorie zu argumentieren."

Sammer will lästig sein, er weiß ja, dass der deutsche Fußball schon mal den Anschluss verloren hat, weil er sich für unschlagbar hielt (siehe unter: Beckenbauer, 1990). Selbst die rivalisierende Fraktion im DFB, die A-Nationalelf, erkennt nach all den Abnutzungskämpfen der Vergangenheit, dass da einer mit Leidenschaft durch den Unterbau fegt, Betrieb macht und Themen anspitzt, die ihm zentral erscheinen.

Im Moment ist Belastungssteuerung einer meiner Lieblingsausdrücke", sagt Sammer. Er kennt ja die Fallen, die heutzutage auf die Hochbegabten lauern, er hat natürlich verfolgt, dass einer wie Mario Götze mit 19 schon an einer Stressreaktion am Schambein leidet.

Es ist ja in der Tat nur schwer verantwortbar, wenn ein kostbares Talent wie Emre Can im Jahr 2011 über 70 Spiele bestreitet - "davon 21 Länderspiele", wie Can selbst notiert hat. "Dass Emre im selben Jahr eine U17-WM und eine U17-EM bestreitet und auf mehr Spiele kommt als ein Profi im Männerbereich, ist nicht in Ordnung", sagt Sammer, "aber den Kalender macht die Fifa, nicht der DFB." Der DFB, sagt Sammer, sei den Klubs extra entgegengekommen, der Verband habe die Spieler, die im Juni 2011 bei der U17- WM in Mexiko waren, "extra ein halbes Jahr in Ruhe gelassen" - die Spieler sollten Zeit bekommen, sich auf Urlaub, Schule und Verein zu konzentrieren.

Emre Can ist bei Bayern von der A-Jugend in die zweite Mannschaft befördert worden, im Januar ist er auf Wunsch von Trainer Jupp Heynckes sogar mit den Bayern-Profis ins Trainingscamp nach Katar gereist. Erst jetzt, im Februar, fordert der DFB wieder seine Rechte ein.

Aber das ändert nichts an dem Grundsatzkonflikt, der den deutschen Fußball weiter begleiten wird. Der Leverkusener Michael Reschke spricht für die ganze Liga, wenn er sagt: "Die Ausbildung der Spieler wird im Verein geleistet, nicht beim DFB, und es bleibt ein Interessenskonflikt, wenn der DFB mit seinen Jugendteams Titel holen will, während die Klubs bei ihren Junioren weniger die Tabelle im Blick haben, eher die Weiterentwicklung der Spieler." Sammer hingegen sagt, er kenne Klubs, "die U17-Spieler an zwei Tagen hintereinander in zwei verschiedenen Jugend-Teams einsetzen, einmal 80 und einmal 40 Minuten".

Im Detail zeigt sich, wie diametral sich die Auffassungen gegenüberstehen, wie beide Parteien der jeweils anderen unterstellen, die Spieler zu verschleißen. Sammer hat sich dennoch vorgenommen, die Fronten wieder zu befrieden. Er mahnt zum Wohl der Spieler eine konstruktive Zusammenarbeit an, wenigstens der Tonfall soll sich wieder ändern, die Lästereien hinter vorgehaltener Hand sollen ein Ende finden. Nächste Woche wird Sammer bei der DFB-Trainersitzung seinen Juniorentrainern ins Gewissen reden, und Ende Februar hat er sich mit den Leitern der Klub-Leistungszentren zum Gespräch verabredet.

© SZ vom 11.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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