Interview mit Joachim Löw:"Meine Ansprüche sind extrem gestiegen"

Lesezeit: 8 min

Was braucht man, um für Deutschland spielen zu dürfen? Bundestrainer Joachim Löw spricht im Interview über seine Castingregeln für Nationalspieler, einen Fitnessplan für Marcell Jansen - und die große Enttäuschung von Michael Ballack.

Christof Kneer und Philipp Selldorf

SZ: Herr Löw, haben Sie den tollsten Beruf der Welt?

Bundestrainer Joachim Löw beim Training mit der Nationalelf. (Foto: dpa)

Löw: Einen hervorragenden Beruf, absolut ja. Ich könnte mir im Moment keinen besseren vorstellen.

SZ: Gab's auch schon andere Traumberufe für Sie? Feuerwehrmann? Lokomotivführer?

Löw: Mein Kindheitstraum war Pilot. Ich habe eine Vorliebe fürs Fliegen.

SZ: Fliegen ist schlecht für Trainer...

Löw: ... stimmt, die Erfahrung habe ich auch ohne Pilotenschein gemacht.

SZ: Zum tollsten Job der Welt gehört, dass Sie 2014 eine WM in Brasilien erleben dürfen. Als Sie kürzlich Ihren Vertrag verlängert haben, ernannten Sie Brasilien zum Ziel am Horizont. Sprechen Sie darüber auch mit Ihren Spielern?

Löw: Im Trainerteam sprechen wir schon über Spieler, die im Hinblick auf Brasilien interessant sein könnten. Für die Spieler selbst ist 2014 zu weit weg, mit ihnen mache ich kleinere Schritte.

SZ: 2014 werden womöglich Spieler dabei sein, die man jetzt noch gar nicht kennt, weil sie noch in den U17- und U19-Teams stehen. Gehört es auch zum tollsten Job der Welt, diese Jungen schon im Blick zu haben?

Löw: Ich sehe natürlich selten U17- und U19-Spiele live im Stadion, deshalb habe ich vor kurzem gesagt: Ich will jetzt mal eine Vorstellung davon haben, was hinter den Namen steckt. Die Nachwuchs-Trainer haben dann eine hervorragende Videopräsentation von den Jungen gemacht: Wer spielt welche Position, was sind Stärken und Schwächen?

SZ: In der U 17 stehen viele Spieler mit türkischen Wurzeln. Die Gefahr besteht, dass sie dem DFB noch von der Fahne gehen, wie Sahin, Ekici. Begreifen Sie es auch als Ihre Aufgabe, sich im Hinblick auf 2014 um solche Spieler zu kümmern?

Löw: Vor zwei, drei Monaten hatten wir eine Sitzung mit allen U-Trainern und Matthias Sammer. Eine Bestandsaufnahme. Es ging um die Frage: Wer kann mal eine große Karriere machen? Und dabei ging es auch um die Wurzeln der Spieler, wenn ich das mal so sagen darf. Der DFB führt da natürlich Gespräche, in erster Linie Matthias Sammer. Aber wir machen keine falschen Versprechungen.

SZ: Wenn Sie schon so akribisch in den Tiefen der U-Teams forschen, darf man sich also weiterhin auf eine hohe Fluktuation in Ihrem A-Team einstellen?

Löw: In der Stammformation ist die Fluktuation gar nicht so hoch. Es gibt ja keinen Grund, Neuer, Özil, Müller oder Khedira auszutauschen.

SZ: Aber auf den hinteren Rängen geht es rasend schnell. Die WM ist gerade mal ein Jahr her, schon sind Spieler wie Trochowski, Jansen, Marin, Tasci, Kießling, Beck oder Westermann verschwunden. Längst gibt es neue Namen: die Dortmunder Hummels, Götze, Bender, Großkreutz, dazu Schürrle, Reus, Höwedes.

Löw: Ich habe mich nach der WM hingesetzt und mich gefragt: Bin ich mit den Kaderplätzen 15 bis 20 noch zufrieden, oder sind da Spieler dabei, die in ihrer Entwicklung stehengeblieben sind? Wenn kein Fortschritt zu erkennen ist, dann reagiere ich.

SZ: Ist das der Plan, den Sie fürs Team entwickelt haben: einen jungen Stamm und dahinter eine konsequente Rotation?

Löw: Es ist einfach ein verschärfter Konkurrenzkampf. Ich muss die neuen Spieler ja auch mal im Wettkampf sehen, um sie beurteilen zu können. Auch Özil, Khedira oder Müller haben vor der WM ihre Spiele machen dürfen. Diese Generation braucht zwar nicht mehr 30 Länderspiele, um fit für ein großes Turnier zu sein, aber fünf oder zehn schon. Deshalb probiere ich ganz bewusst viel.

SZ: Haben Jansen, Trochowski und Co. Chancen auf Rückkehr, oder ist diese Generation schon überflüssig geworden?

Löw: Das kann man pauschal nicht beantworten, aber natürlich gibt es Spieler, die sich über drei, vier Jahre bei uns nicht wirklich durchsetzen konnten. Wenn man dann 19-Jährige hat, die im Verein schon Leistungsträger sind und trotzdem Entwicklungspotential haben - dann gibt man ihnen natürlich eine Chance. Das ist schon eine Art Umbruch.

Nationalelf: Einzelkritik
:Glücklose Perspektivspieler

Ein linker Verteidiger, der Flanken zum Gegner schlägt, ein Rechtsaußen, der fast schon zu reif agiert und ein Stürmer, der zwischen Bayern-Beinen und DFB-Beinen wechselt. Die Nationalmannschaft in der Einzelkritik.

Carsten Eberts, Mönchengladbach

SZ: Nehmen wir mal Marcell Jansen, auf den Sie lange gebaut haben: Können Sie an seinem Beispiel erklären, wie Sie mit dieser Mittelgeneration umgehen? Wie kann er seine DFB-Karriere retten?

Nationalelf: Einzelkritik
:Glücklose Perspektivspieler

Ein linker Verteidiger, der Flanken zum Gegner schlägt, ein Rechtsaußen, der fast schon zu reif agiert und ein Stürmer, der zwischen Bayern-Beinen und DFB-Beinen wechselt. Die Nationalmannschaft in der Einzelkritik.

Carsten Eberts, Mönchengladbach

Löw: Eigentlich denke ich nach wie vor, dass er viele Möglichkeiten hat.

SZ: Aber?

Löw: Er war bei allen Turnieren dabei, ist immer auf den letzten Drücker fit geworden, aber in der Zeit zwischen den Turnieren war er viel zu wenig zu sehen.

SZ: Er war oft verletzt.

Löw: Genau, das ist das Problem. Deshalb habe ich ihm jetzt gesagt: Marcell, wir beide müssen jetzt eine Lösung finden. Du musst jetzt im Sommer ganz konsequent was für deine Fitness tun und dann eine Saison in Hamburg professionell durchziehen - oder wir müssen auf dich verzichten. Ich habe ihm klar gesagt: Ich glaube, dass du ein sehr guter Spieler bist, aber es wird nicht mehr so sein, dass ein paar gute Spiele reichen, um zum Turnier zu kommen.

SZ: Seine letzte Chance.

Löw: Eine Chance, aber verbunden mit einer klaren Ansage. Ich habe ihm vor kurzem gesagt: Sag mir demnächst Bescheid, was du in der Sommerpause zu tun gedenkst. Willst du vier Wochen Urlaub machen oder an deine Karriere denken? Du weißt, du kriegst von mir alle Unterstützung. Mittlerweile ist klar, dass er demnächst mit unserem Fitnesscoach Shad Forsythe intensiv arbeiten wird.

SZ: Ist dieses Beispiel typisch für Ihren Umgang mit Spielern, die schon länger dabei sind? Sagen Sie zu Marko Marin auch: Von dir muss der nächste Schritt kommen, sonst bleibst du auch künftig außen vor?

Löw: Grundsätzlich schon. Auch Marko weiß, dass ich die Leistungen in der Bundesliga sehr genau bewerte. Zu ihm habe ich gesagt: Im Moment sehe ich andere Spieler vor dir, Schürrle, Reus oder Großkreutz ...

SZ: ... Sydney Sam aus Leverkusen?

Löw: Ja, auch der ist ein interessanter Spieler für uns, der hat ein hohes Tempo im Eins-gegen-Eins-Spiel, das ist international sehr wichtig. Marko Marin weiß, dass er sich anstrengen muss.

SZ: Sie sind strenger geworden.

Löw: Anspruchsvoller. Alle wissen: Es gibt einen Unterschied zwischen einem sehr guten Bundesligaspieler und einem, der uns auf der internationalen Ebene weiterbringt. Diesen Nachweis müssen auch die Jungen erst erbringen, ein gutes Jahr in der Bundesliga reicht mir da nicht. Ich bin gespannt, wie sich die Dortmunder nächste Saison in der Champions League schlagen, was Schürrle in Leverkusen macht. Da wird sich herausstellen: Wer geht mit uns zur EM? Es kann gut sein, dass das der eine oder andere nicht alles schafft.

SZ: Sie können es sich inzwischen leisten, anspruchsvoll zu sein.

Löw: Ich hänge die Messlatte viel höher als früher, das ist für meine Spieler nicht immer einfach. Ich war als Vereinstrainer zwar auch schon im internationalen Geschäft, mit Stuttgart oder Fenerbahce, aber das war nicht die absolute Weltspitze. Wenn Deutschland gegen Spanien spielt, ist die Qualität unglaublich hoch, so extrem wie höchstens noch in der Spitze der Champions League. Auf diesem Niveau bewegen wir uns mit der Nationalelf, das hat meine Ansprüche extrem steigen lassen. Ich weiß jetzt, wie gut man sein muss, um die Spanier zu schlagen. Diesen Anspruch werden nicht alle unsere jungen Spieler erfüllen.

Nationalelf: Einzelkritik
:Mit Trömmelche und Friesentee

Stadionsprecher Mertesacker, Linksverteidiger Flick, zwei Mittelfeldspieler müssen mehr schlafen und Podolski freut sich über einen Karnevalsklassiker als Hymne. Die DFB-Elf gegen Kasachstan in der Einzelkritik.

Carsten Eberts, Kaiserslautern

SZ: Wenn Sie mit dieser neuen Mannschaft jetzt zum EM-Qualifikationsspiel nach Wien reisen: Denken Sie dann nochmal an das Vorrunden-Spiel bei der EM 2008? Eine Niederlage hätte das Aus bedeutet und Ihre Bundestrainer-Karriere vorzeitig beendet. Das Spiel wurde 1:0 gewonnen - durch einen Gewaltschuss des Führungsspielers Michael Ballack.

Löw: Michael hat viele wichtige Tore geschossen, nicht nur dieses. Unabhängig davon glaube ich, dass die Mannschaft inzwischen bewiesen hat, dass sie sich auch ohne die klassischen Führungsspieler aus Drucksituationen befreien kann. Auch den Ausfall von Bastian Schweinsteiger werden wir auffangen.

SZ: Ganz ehrlich: Wie sehr nervt Sie die Debatte um Ballack inzwischen?

Löw: Ach, ich halte die Debatte fast für normal. Bei Personalien herrschen eben unterschiedliche Meinungen, das war vor Michael so, und das wird nach ihm so sein. Wichtig ist mir, dass wir ein paarmal telefoniert und uns zweimal getroffen haben. Wir wissen beide, was der andere denkt.

SZ: Was sagen Sie ihm denn, wenn Sie mit ihm zusammensitzen?

Löw: Ich habe ihm gesagt, dass ich mit einem eingespielten Team und damit den Spielern, die sich zuletzt bewährt haben, in die letzten drei Spiele vor der Sommerpause gehen möchte.

SZ: Und dann?

Löw: Dann ist die Saison vorbei.

SZ: Und dann?

Löw: Dann werden wir nochmal ein Gespräch führen. Und dann wird es eine Entscheidung geben, wie es weitergeht, und die wird dann auch kommuniziert.

SZ: Wer muss die Entscheidung denn treffen, wer ist Ihrer Meinung nach am Zug: Sie oder der Spieler?

Löw: Da möchte ich im Moment nichts dazu sagen.

SZ: Wie stark ist denn der Groll, den Sie bei Michael Ballack spüren?

Löw: Es ist weniger Groll, es ist eher Enttäuschung. Das letzte Jahr lief einfach unglücklich für ihn. Erst platzt sein Traum von der WM, dann muss er bei seinem Kurzbesuch in Südafrika feststellen, dass er nicht mehr so richtig dazugehört. Dass sich da eine Mannschaft gefunden hat, und dass er bei seinem Besuch in Südafrika eben kein Teil dieser Mannschaft mehr war. Das war hart für ihn.

SZ: Wie hart ist es für ihn, wenn Sie als Argument für seine Nichtnominierung mangelnde Fitness und Spielpraxis betonen, gleichzeitig aber den angeschlagenen Sami Khedira berufen? Da muss Ballack doch denken: Ich bin abgeschrieben.

Löw: Ich habe das mit der Fitness sicher mal gesagt, aber ich möchte nicht, dass jetzt jedes meiner Worte quasi mikroskopisch beleuchtet wird. Michael war sechs, sieben Monate verletzt, er muss seinen Rhythmus noch finden, er hat ja auch in Leverkusen erst mal um seinen Platz kämpfen müssen. Sami Khedira fehlt seit vier Wochen, aber er hat davor immer gespielt, das ist schon ein Unterschied. Und es geht ja nicht nur um Fitness.

SZ: Sondern?

Löw: Die Perspektive ist auch ein Kriterium. Als Trainer bin ich verpflichtet, übers nächste Spiel hinauszudenken. Ich muss berücksichtigen: Was ist 2012, und was ist in Brasilien 2014? Wer prägt da unser Spiel? Auch diese Überlegungen kennt Michael Ballack.

SZ: Auch das wird ihm signalisieren, dass er nicht mehr gefragt ist. Warum kann man das nicht sagen? Der Eindruck ist doch ohnehin: Die Sache ist entschieden, offen ist nur noch, wer den Deckel drauf macht.

Löw: Jetzt lassen Sie uns doch mal die nächsten drei Spiele spielen. Da geht's um die EM-Qualifikation, das ist nicht der passende Zeitpunkt, um eine Entscheidung zu verkünden. Nochmal: Danach wird es ein Gespräch geben, wie es weitergeht, und anschließend gibt es etwas mitzuteilen.

WM 2011: Deutscher Kader
:21 Favoritinnen

Die Bundestrainerin hat entschieden: Mit diesen 21 Spielerinnen will Silvia Neid den Titel bei der Fußball-WM in Deutschland verteidigen. Fünf Kandidatinnen musste Neid am Ende streichen - dabei gab es auch Überraschungen.

Die Steckbriefe der WM-Fahrerinnen.

SZ: Es gibt ja leider kein Handbuch, in dem man den richtigen Zeitpunkt für Entscheidungen nachschlagen kann.

Löw: Da haben Sie recht. Als ich im Januar 2010 nach Bremen geflogen bin, um Torsten Frings zu erklären, dass wir für die WM nicht mehr auf ihn bauen, hieß es auch: Warum gerade in der Winterpause? Die einen haben gemeint: viel zu spät, das muss man vor Saisonbeginn sagen. Andere meinten: viel zu früh, was macht der Löw denn, wenn eine Verletzungsserie kommt?

SZ: Wie kam es denn gerade zu diesem Zeitpunkt?

Löw: Irgendwann im Herbst habe ich im Trainerteam die Devise ausgegeben: Wir beobachten Torsten jetzt nochmal regelmäßig. Gleichzeitig habe ich gesagt: Parallel dazu beobachten wir den jungen Khedira, in jedem Spiel. In der Winterpause haben wir uns zusammengesetzt, und ich habe entschieden: Ja, jetzt bin ich endgültig überzeugt! Sami Khedira ist so weit, der kann uns bei der WM helfen. Ich bin dann sofort zu Torsten Frings geflogen und habe ihm das mitgeteilt. Natürlich hätte ich das auch im Oktober machen können, aber ich wollte bei Khedira einfach hundertprozentig sicher sein.

SZ: Wann ist Ihre junge Mannschaft so weit, dass Sie Spanien schlagen kann?

Löw: Ich weiß, dass man die Spanier besiegen kann, die Frage ist nur, wie oft. Wenn man zehnmal gegen Spanien spielt, wie oft gewinnt man dann? Nicht oft, das ist das Problem.

SZ: Sie und Ihr Stab sind ja bekannt dafür, dass Sie jeden Gegner bis ins Detail erforschen und daraus einen exakten Spielplan entwickeln. Wie geht das bei den Spaniern? Finden Sie da überhaupt Schwachstellen?

Löw: Nicht viele, da haben Sie recht. Die Spanier sind, das vergisst man gerne, eben auch defensiv sehr gut. Aber das Hauptproblem ist, dass sie einen mit ihrem ewigen Ballbesitz zermürben können. Das muss man als gegnerische Mannschaft erst mal akzeptieren, dass man einfach nicht an den Ball kommt. Natürlich kann man daraus auch einen Plan ableiten: Lass die Spanier ruhig am Ball sein, wir lauern auf die paar Ballverluste und greifen dann an. Aber diese Geduld und Nervenstärke muss man als Gegner erst mal haben.

© SZ vom 29.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: