Fußball-WM:Englands beliebtester Quadratschädel

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Ungehemmt und obenauf: Der englische Defensivspieler Harry Maguire, Torschütze des wichtigen 1:0 für England, gewinnt das Luftduell mit dem Schweden Marcus Berg. (Foto: Emmanuel Dunand/AFP)
  • Englands Nationalteam steht im WM-Halbfinale, weil es nach Ecken erstaunlich viele Kopfballtore erzielt hat.
  • Gegen Schweden traf im Viertelfinale Harry Maguire - ein Typ, der so spielt wie es heute nur noch wenige tun.

Von Sven Haist, Samara

Im Pulk zogen sich die englischen Spieler zur Beratung zurück: Es galt, eine Strategie zu entwerfen, um Harry Maguire vor seinen Gegenspielern zu verstecken. Nicht die einfachste Aufgabe: Harry Maguire, 1,94 Meter und knapp 100 Kilogramm, kann man auf dem Spielfeld nicht einfach so verschwinden lassen; egal, wo er ist, ragt seine imposante Erscheinung heraus. Zwei Teamkollegen, Harry Kane und John Stones, wurden dann als Leibwächter ausgewählt, die, Seite an Seite stehend, Maguire zumindest in der Breite abdecken sollten.

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Zur vollständigen Tarnung hätten sie allerdings jeweils noch einen Kumpel auf die Schultern nehmen müssen, um Maguire auch in der Höhe zu verbergen. Damit allerdings wäre England wohl langsam das Personal ausgegangen im Viertelfinale gegen Schweden: Irgendjemand musste als Schütze ja übrig bleiben zur Ausführung des Eckballs - drei Profis waren für Blocks im Strafraum eingeteilt, die restlichen Akteure zur Konterverhinderung, falls das Versteckspiel mit Maguire doch nicht nach Plan ablaufen würde. Und Maguire half dann selbst noch etwas nach, indem er den Kopf ein bisschen einzog.

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Die List gelang: Die kurze Phase der Unsichtbarkeit genügte in der 30. Minute zur Täuschung der gegnerischen Manndeckung. Bei der Tempoaufnahme umkurvte Maguire die ihn abschirmenden Mitspieler, bis er sich in die Luft katapultieren konnte wie bei einem Sprung auf dem Trampolin. In der Höhe wuchtete er den Ball ins Tor. Noch bevor er wieder Boden unter den Füßen hatte, überquerte das Spielgerät die Torlinie - es war sein erster Länderspieltreffer. "Yeah, so ein guter Kopfball tut nicht weh", schrieb Abwehrkollege Kyle Walker, als er Maguire später auf Instagram gratulierte: "Man fühlt schon in dem Moment, wo man den Ball einwandfrei trifft, dass es ein guter Kopfball wird. Weißt du, was ich sagen will, mein Lieber?"

Spätestens nach den beiden Kopfballtoren durch Harry Maguire und Dele Alli beim 2:0 über Schweden im WM-Viertelfinale lässt sich folgendes bilanzieren: Der Kopf ist für England zum entscheidenden Körperteil bei diesem Turnier geworden. Acht der elf Tore liegen Standardsituationen zugrunde - wovon fünf Treffer per Kopf erzielt wurden und zwei Elfmeter aus der Sorge des Gegners resultierten, womöglich gleich ein Kopfballtor hinnehmen zu müssen. Zur Entstehung dieser sieben Treffer trugen Rechtsaußen Kieran Trippier und Ashley Young auf links mit ihren Flanken bei. Die Zeitung The Sun schrieb, dass England mit den Füßen auf dem Boden stehe, aber mit dem Kopf in den Wolken schwebe: "Alles muss warten - England ist wirklich erstmals nach 1990 wieder im Halbfinale."

Das Duell um den dritten Platz hat England sicher. In der Gruppenphase fielen 43 Prozent aller Treffer nach Standards - so viel wie noch nie bei Weltmeisterschaften. Diesen Trend hat England frühzeitig antizipiert: In der Vorbereitung wurde so viel Zeit und Arbeit auf die Ausführung von Freistößen, Ecken und Elfmeter gelegt, als würde das Spiel nur aus diesen Standards bestehen. Mit Akribie und Fleiß hat Nationaltrainer Gareth Southgate für jede Abwehrformation der Gegner eine Variation eingeübt, die sein Team selbst unter höchstem Stress ausführen kann.

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Die Detailtreue lässt vermuten, dass England sogar für jede Windrichtung eine Strategie ertüftelt hat. Diese Vorbereitung wird nun am Mittwoch im Halbfinale gegen das gewiefte Kroatien zum ersten Mal ernsthaft auf die Probe gestellt. Denn bisher kamen England schwächere Nationen in die Quere - und das Vorrundenduell mit Belgien verkam zur Bedeutungslosigkeit, weil beide Teams die nächste Runde schon erreicht hatten. Diese neue Flexibilität und Vielfalt in der englischen Nationalmannschaft verkörpert kaum jemand besser als Harry Maguire, 25. Seine Sperrigkeit macht ihn zu einem der letzten Vertreter einer fast ausgestorbenen Generation englischer Abwehrspieler, die das eigene Tor statt mit Spielverständnis vorwiegend mit Leib und Seele verteidigen.

Die Routine hat sich Maguire in der vergangenen Saison aneignen können, als er in der Premier League keine Spielminute verpasste. Nach dem Abstieg mit Hull City wechselte er für knapp 15 Millionen Euro im Sommer 2017 zu Leicester City. An der Seite des Kapitäns Wes Morgan hat Maguire dort in der Innenverteidigung gelernt, nie die Nerven zu verlieren und sich erfolgreich in den Weg der gegnerischen Angreifer zu stellen.

Seine physische Widerstandsfähigkeit fordert geradezu einen Vergleich mit dem resoluten Jack Charlton heraus, der zusammen mit dem grazilen Kapitän Bobby Moore 1966 die Abwehr bildete beim englischen Titelgewinn. Die Fähigkeiten dieser beiden Vorbilder vereint Maguire in einer Person: Neben der Wucht verfügt er über eine feine Spieleröffnung mit dem rechten Fuß.

Ebenso kann England abwechseln zwischen banal anmutenden Flugbällen hinter die Abwehrreihe des Gegners und einer Aneinanderreihung an endlos wirkenden kurzen Pässen, bis sich für die offensiven Feingeister eine Lücke zum Durchbruch bietet. Notfalls setzt Maguire zu einem seiner gefürchteten Dribblings an. Meist bildet sich für ihn direkt ein Spalier, niemand traut sich ja so richtig, einen Zweikampf mit ihm einzugehen, weil der Abwehrkoloss aus Sheffield dafür bekannt ist, die Gegenspieler an sich unbeschadet abprallen zu lassen wie ein Rammbock.

Auf der Insel nennen ihn die Fußballfans liebevoll "Slab-Head", nachdem Jamie Vardy ihm bei Leicester den Spitznamen Quadratschädel eingebracht hat. Kürzlich ließ es sich Vardy in einem Mediengespräch nicht nehmen, auch eine Frage an Maguire zu richten: "Hi, ich bin Jamie Vardy von den Vardy News", sagte er. "Was ist der Durchmesser Ihres Kopfes?" Eine genaue Antwort blieb Harry Maguire schuldig - vor Lachen bekam er sich nämlich nicht mehr ein.

© SZ vom 09.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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