Nach Samara wäre Harry Maguire vermutlich ohnehin gefahren. Hätte Englands Innenverteidiger am Samstagabend im WM-Viertelfinale gegen Schweden nicht auf dem Platz gestanden, wäre er wahrscheinlich als Fan dabei gewesen. So wie 2016, als er den Three Lions bei der EM durch Frankreich nachreiste, gemeinsam mit seinen Brüdern und einigen Kumpels, und das in Urlaubsfotos dokumentierte, die in England gerade so gut wie jede Zeitung druckt.
Schwedens Innenverteidigung hätte vermutlich nichts dagegen gehabt, wenn Maguire auf der Tribüne Platz genommen hätte, insbesondere in der 30. Minute. Da nämlich nahm der Innenverteidiger ein paar Meter Anlauf aus dem Rückraum, wuchtete seine 100 Kilogramm in die Luft und schien plötzlich 20 Zentimeter über dem Pulk an schwedischen Verteidigern zu schweben, die ihren Strafraum im bisherigen Turnierverlauf eigentlich zur No-Fly-Zone erklärt hatten. Maguire, den Fans und Kollegen in der Premier League liebevoll "Slab-Head", also Riesen-Kopf nennen, ignorierte sämtliche Flugverordnungen und köpfte wuchtig ins linke Eck.
Wegen ihres modernen Spielstils wird Southgates Mannschaft "New England" genannt
Das 1:0 zum 2:0-Sieg und der Halbfinaleinzug mit der Nationalmannschaft stellen den vorläufigen Höhepunkt in Harry Maguires Bilderbuch-Karriere dar, die mit einer Familien-Diskussion begann. Maguires Vater war Fan von Sheffield Wednesday, seine Mutter unterstützte Sheffield United, erzählte er bei LeicestershireLive. Am Ende war die sportliche Perspektive bei United besser, vielleicht war aber auch Mum überzeugender. Nach drei Jahren bei Sheffield wechselte Maguire 2014 zu Hull City, weitere drei Jahre später wollte ihn dem Vernehmen nach die halbe Premier League verpflichten, am Ende bekam Leicester City für 17 Millionen Pfund den Zuschlag.
"Er hat mich vor allem mit seinen unzähligen Fragen zu unserer Taktik und dem Spielstil beeindruckt", sagte Craig Shakespeare, damals Trainer in Leicester, dem Telegraph Sport. Überhaupt: Wer Maguire allein wegen seiner Statur in eine Kategorie mit Innenverteidigern wie Robert Huth (seinem Vorgänger bei Leicester) steckt, tut ihm Unrecht. Nur 28 Spieler hatten in der vergangenen Premier-League-Saison eine bessere Pass-Statistik.
Es ist kein Zufall, dass Nationaltrainer Gareth Southgate in seiner revolutionären Dreierkette, mit der er die Grundprinzipien des britischen Fußballs derzeit erfolgreich in Frage stellt, auf Spieler wie Maguire oder John Stones von Meister Manchester City vertraut, die nicht nur kantige Verteidiger, sondern auch herausragende Spieleröffner sind und damit einem neuen Typ Innenverteidiger angehören, die anspruchsvolle Fußball-Konzepte von Trainern wie Pep Guardiola oder Antonio Conte umsetzen können.
Auch wegen ihres modernen Spielstils wird Southgates Mannschaft in diesen Tagen allenthalben "New England" genannt. Doch besticht das England der WM 2018 durch mehr als nur durch offensive Taktik. Die Three Lions lassen derzeit ein ganzes Land wieder an den Slogan glauben, dass der Fußball nach Hause kommt. "It's coming home", seit der EM 1996 Hymne des englischen Fußballs, wird lauter gesungen als je zuvor. Und es ist dafür nicht unerheblich, dass in Harry Maguire mittlerweile ein großer Fan der Nationalmannschaft Tore verhindert und erzielt.