Entwicklung des deutschen Fußballs:Kunst der Stunde

Im Jahr 2000 galten deutsche Teams noch als Hort von "Rumpelfüßlern". Nach vielen Reformen und Experimenten zeigen nun der FC Bayern und Borussia Dortmund, was es braucht, um große Titel zu gewinnen. Angeleitet von ihren Trainern haben beide Teams aus ihrer persönlichen Vergangenheit eine Schlaghärte entwickelt, die dem Bundestrainer zu denken geben dürfte.

Von Christof Kneer

Wer im Juni des Jahres 2000 in Rotterdam dabei war, wird das Gesicht von Horst Hrubesch nie vergessen. Der Assistenztrainer der deutschen Nationalmannschaft stand verloren in der Nacht herum und schämte sich nicht, seine Tränen zu zeigen. Der Mann an seiner Seite weinte nicht, Erich Ribbeck sah umwerfend aus wie immer, aber wer genau hinsah, erkannte doch dieses Grau, das langsam unter der Gesichtsbräune hervorwuchs.

Die deutsche Nationalelf war gerade in der Vorrunde der Europameisterschaft ausgeschieden, und sie hatte dabei noch kläglicher ausgesehen als ihre beiden Trainer. Am nächsten Tag erklärte der Teamchef Ribbeck seinen Rücktritt und nahm einen Flieger nach Teneriffa, wo er die unterbrochene Arbeit an Golf-Handicap und Gesichtsbräune wieder aufnahm.

Dreizehn Jahre ist es jetzt her, dass der deutsche Fußball auf Jahre hinaus untröstlich zu sein schien, aber man muss die traurigen Gesichter von damals kennen, um die glücklichen Gesichter von heute zu verstehen. Die Gesichter von heute gehören jungen Menschen wie Bastian Schweinsteiger, Thomas Müller oder Mario Götze, sie waren 15, elf und acht, als der deutsche Fußball im Juni 2000 kollabierte.

Sie sind mit den traurigen Bildern sozialisiert worden, sie haben früh gehört, wie man über den deutschen Fußball spricht. Auf deutschen Fußballtrikots klebte unsichtbar das Etikett "Rumpelfüßler", dieser Begriff markierte eine Art Alleinstellungsmerkmal für eine ehemals große Fußballnation, die sich partout nicht mehr erinnern konnte, wie dieses Fußballspiel noch mal funktionierte. Dieses Image sind die Deutschen auch nicht losgeworden, als eine überreife Bayern-Mannschaft im Jahr 2001 mit einer letzten Kraftanstrengung die Champions League eroberte und eine aus der Zeit gefallene Nationalelf sich im Jahr 2002 versehentlich ins WM-Finale schleppte.

Der deutsche Fußball hat einen langen Weg hinter sich. Der Weg, der kurz nach der Tränennacht von Rotterdam begann, endet nun im Londoner Wembley-Stadion, wo sich am 25. Mai zwei deutsche Klubteams im Champions-League-Finale begegnen. Das bedeutet nichts anderes, als dass es sich beim FC Bayern und Borussia Dortmund um die aktuell besten europäischen Fußballmannschaften handelt. Dieses Finale ist der imposanteste Beweis, dass es sich endgültig ausgerumpelt hat.

Der Urknall von Rotterdam hat jenen Fußball erschaffen, den Europa an den Fernsehschirmen zuletzt kaum glauben konnte. Auf beide Spiele gerechnet, hat der FC Bayern den FC Barcelona mit 7:0 besiegt, und nimmt man das Viertelfinale hinzu, als die Münchner in Hin- und Rückspiel jeweils 2:0 gegen Juventus Turin siegten, dann steht es jetzt 11:0. Gegen Teams aus zwei Nationen, von denen die eine vor kurzem noch als ferner Leitstern verherrlicht wurde (Spanien), während die andere wegen ihrer Schläue für deutsche Teams traditionell als kaum besiegbar galt (Italien).

Über die Europameisterschaft 2000 ist mit Recht gründlich gelästert worden, aber aus heutiger Sicht darf der deutsche Fußball ihr dankbar sein. An diesem erschütternden Abend von Rotterdam, nach einem erschütternden 0:3 gegen eine Ersatzmannschaft aus Portugal, begriff der Deutsche Fußball-Bund (DFB), dass es vielleicht doch kein Plan für die Zukunft sein würde, Lothar Matthäus auf ewig als Libero wiederzubeleben. Matthäus hatte in Rotterdam mitgespielt, mit 39, auf einer Position, die andere Nationen wegen erwiesener Rückständigkeit längst abgeschafft hatten.

Positives Signal für Löw

Unter dem Eindruck von Rotterdam beschloss der DFB umfangreiche Maßnahmen, die zunächst in eine kleine Reform und zwei Jahre später in einen großen Wurf mündeten. Ein hastig zusammengeflicktes Stützpunkt-System wurde 2002 von einem professionellen Talentförderprogramm abgelöst, und so verfügt der DFB inzwischen über ein geschlossenes System, das möglichst kein Talent mehr vom Radar verlieren soll. Etwa 1000 Honorartrainer scannen das Land möglichst flächendeckend - um die Talente dann entweder in die DFB-Stützpunkte zu dirigieren oder direkt zum Bundesligisten ihres Vertrauens.

Dies ist die zweite Säule, auf die der DFB sein Nachwuchsprogramm errichtet hat: In den - seit 2002 obligatorischen - Leistungszentren der Erst- und Zweitligisten werden die Nachwuchsspieler so selbstverständlich mit dem Niveau des Profifußballs vertraut gemacht, dass sie mit 18 so reif wirken wie die Rumpelfüßler mit 28.

Die Nachricht der Woche ist nun aber jene, dass die Nachfolger der Rumpelfüße im Champions-League-Finale einen bedeutenden internationalen Titel gewinnen werden - etwas, was der Nationalmannschaft bisher verwehrt blieb. Von Bayern und Dortmund kann man lernen, dass es nicht reicht, kein Rumpelfuß mehr zu sein. An beiden Orten paart sich die grundsätzliche Qualität des deutschen Fußballs mit Sondereffekten, die diese Teams so gefährlich machen.

Die Bayern spielen immer noch mit den offenen Wunden der Vergangenheit, sie tragen das verlorene Champions-League-Finale gegen Chelsea ebenso mit sich herum wie die Niederlagen, die ihnen der unverschämte Rivale aus Dortmund zugefügt hat. Im Spiel der Bayern verbindet sich hohe individuelle Kunstfertigkeit mit einem bedrohlichen Trotzgefühl und einer noch bedrohlicheren Willensstärke, was besonders für Spieler wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Arjen Robben oder Franck Ribery gilt, die sich schon kompromittierende Fragen nach ihrer Karrierebilanz gefallen lassen müssen. Sie haben noch keinen internationalen Titel gewonnen, weder im Klub noch im Nationalteam. Und sie finden, dass das langsam nervt.

Auf diese Weise hat eine ziemliche Wucht das Spiel der Bayern erfasst, auch die Dortmunder genießen ihr Spiel mit einer emotionalen Heftigkeit, die noch die dunklen Jahre der Fast-Insolvenz (2005) erahnen lässt. Angeleitet von ihren Trainern, dem souverän altersweisen Jupp Heynckes und dem souverän berufsjugendlichen Jürgen Klopp, haben beide Teams aus ihrer persönlichen Vergangenheit eine Schlaghärte entwickelt, die dem Bundestrainer zu denken geben dürfte. Joachim Löw hat seiner Elf ein lobenswertes Gespür für Ästhetik vermittelt, aber er mag den harten Punch nicht, ihm wäre es lieber, seine Spieler würden nach dem Vorbild des FC Barcelona mit manikürten Fingernägeln siegen.

Er wird nun einen deutschen Champions-League-Sieger erleben, der modernes gruppendynamisches Spiel (wie Löw es liebt) mit einer vermeintlich altmodischen Derbheit und vermeintlich altmodischen Stilmitteln wie Eckbällen und Freistößen (die Löw weniger liebt) zu einer aufregenden neuen Mischung verbindet. Für Löw wird das am Ende aber eine gute Nachricht sein: Jene Elf, mit der er nächstes Jahr zur WM nach Brasilien aufbricht, besteht fast ausschließlich aus Münchnern und Dortmundern.

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