England bei der Fußball-WM:Klassenfahrt ins Waldidyll

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Gastgeschenk für Teetrinker: Englands Kapitän Harry Kane (l.) und Trainer Gareth Southgate nehmen in Repino einen prächtigen Samowar entgegen. (Foto: Igor Russak/imago/ZUMA Press)
  • Vor dem ersten WM-Spiel der Engländer wird klar, dass diesmal einiges anders ist bei den "Three Lions".
  • Unter Nationaltrainer Gareth Southgate soll die Nationalelf bescheidener werden - aber auch lockerer.
  • Gegen Tunesien hoffen die Engländer auf einen guten Start.

Von Sven Haist, Repino

In der Ferne ragt das Lakhta Center in den Himmel, mit 462 Metern das höchste Gebäude in Europa. Auch die Flutlichtmasten des WM-Stadions sind am Horizont zu erkennen. Schön wäre es, mit dem Boot direkt nach Sankt Petersburg zu schippern, aber eine Anlegestelle gibt es am Ufer in Repino nicht. Die 45 Kilometer lange Fahrt am Finnischen Meerbusen entlang nimmt im Auto eine Dreiviertelstunde in Anspruch; mit der Bahn dauert es anderthalb Stunden, sofern gerade ein Zug hält. An den endlos wirkenden Straßen und Wäldern in der Gegend um den Vorort möchten anscheinend nur wenige Menschen wohnen - mit Ausnahme der englischen Fußball-Nationalmannschaft.

Als WM-Quartier hat sich der englische Verband den Country Club ForRestMix in einer Waldlichtung ausgesucht. Ländliche Beschaulichkeit weit außerhalb der russischen Millionenstadt St. Petersburg - das ist der Gegenentwurf zum Pariser Luxus während der EM vor zwei Jahren. Nationaltrainer Gareth Southgate und der Verband (FA) haben dieses Kontrastprogramm offenbar gewollt. Denn bei der EM 2016 hatten die Auswahlspieler in der historischen "Auberge du Jeu de Paume" wie die Könige residiert. Im Tischtennisraum mussten damals aus Vorsicht die Kronleuchter von der Decke abgeschraubt werden. Die Leistungen auf dem Platz waren dann weniger herrschaftlich und reichten im Achtelfinale nicht einmal gegen Island. Diese Niederlage begleitet die Engländer bis heute, die Wahl der Unterkunft wurde wohl auch in der Hoffnung getroffen, in Repino in Ruhe gelassen zu werden.

Dieser Plan geht auf, bislang sind kaum Fans erschienen: Das erste öffentliche Training im nahe gelegenen Ort Selenogorsk nutzten fast ausschließlich einheimische Kinder für Fotos mit den Spielern. Zur Begrüßung überreichten die Gastgeber landestypisches Brot und Salz sowie einen goldenen Samowar, den Kapitän Harry Kane in den Händen hielt wie einen Pokal. Seit dem WM-Titel von 1966 wartet England ja auf eine Fußballtrophäe.

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Vom Äußeren her erinnert das Hotel an eine bessere Jugendherberge, in der sich für die nächsten Wochen genauso gut Schüler auf Klassenfahrt einfinden könnten. Die im skandinavischen Stil gebaute Anlage wirkt schlicht, auf den Zimmerbalkonen stehen lediglich zwei Holzstühle, eine Dachterrasse gibt es nicht. Auf der Hinterseite des Gebäudes führt ein Wanderweg vorbei, und wenn sich das Sonnenlicht nicht in den Fenstern spiegeln würde, könnten die Spaziergänger in die Räumlichkeiten blicken. Der zwei Meter hohe Bretterzaun reicht als Sichtschutz nicht aus. Wachposten sichern deswegen das Gelände vor Eindringlingen, manche sitzen in Tarnkleidung im Gebüsch.

Ursprünglich hatte England mit einem exklusiven Ressort am Schwarzen Meer geliebäugelt. Aber Hitze und Luftfeuchtigkeit sollen abgeschreckt haben. Das wechselhafte Wetter in Repino mit durchschnittlich 16 Grad im Juni gleicht eher dem kühlen Sommer daheim auf der Insel als den schwülen Temperaturen im Süden Russlands. Die Spieler dürfte das vom Baden am ein Kilometer entfernten Sandstrand abhalten - sofern sie überhaupt baden wollen. Selbst die meisten Einheimischen verzichten auf Abkühlung im Meer, weil es ihnen zu kalt und schmutzig ist.

Mit dem Camp im Nordwesten scheinen es die Engländer geschafft zu haben, wieder einmal ins Extrem zu fallen. Dabei wollten sie Extreme bei dieser WM vermeiden, um den Medien jegliche Angriffsfläche im Falle eines frühen Scheiterns zu nehmen. Denn der nächste Knall könnte trotz eines ausgewogenen Aufgebots erfolgen - diesmal aus Langeweile. In der näheren Umgebung findet sich außer einem durchgehend geöffneten Supermarkt keine Ablenkung. Ein britischer Reporter schrieb, dass selbst "dem Nichts" dort die Decke auf den Kopf fallen würde.

Trainer Southgate hält dagegen: "Mein alter Physiotherapeut bei Aston Villa hat mal zu mir gesagt, dass nur langweilige Menschen gelangweilt seien", sagte er, "das war natürlich eine schnippische Bemerkung. Aber es kann nicht immer Unterhaltung sein. Wir haben genug angenehme Charaktere, um gut miteinander auszukommen." Die Spieler lieferten sich bereits Duelle im Bowling und Darts mit der Presse. Und Southgate kündigte an, den Akteuren ausreichend Freiraum zu gewähren, um Zeit mit ihren Familien verbringen zu können. Der Umgang ist seit seinem Dienstantritt im Herbst 2016 wesentlich entspannter geworden.

Zur Aufbesserung der Unterkunft in Repino hat der Verband luxuriöse Matratzen und Fitnessgeräte einfliegen lassen. Dazu einen Gesellschaftsraum eingerichtet mit Tischtennisplatten und Billardtischen. An den Zimmerwänden der Spieler sind Bilder ihrer Familien angebracht.

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Mit der Suche nach geeigneten Herbergen hat sich England traditionell schwergetan. Bei der WM 2010 in Südafrika quartierte sich das Team in Rustenburg ein, fern der Hauptstadt Johannesburg. Für die Spieler gab es dort augenscheinlich nichts zu tun; Angreifer Jermain Defoe erzählte, damals so angeödet gewesen zu sein, dass er sich mit Zimmerkollege Wayne Rooney dessen Hochzeitsvideo in voller Länge anschaute.

Im Gegensatz dazu bezogen die Three Lions 2012 bei der EM in Polen und der Ukraine ihre Unterkunft im Partybezirk von Krakau, was für Ablenkung sorgte, jedoch die Nachtruhe empfindlich störte. Bei der WM 2014 in Brasilien buchte sich die Auswahl zur Zufriedenheit der Beteiligten in einem Nobelhotel etwas außerhalb des Zentrums von Rio ein - ohne an den dichten Stadtverkehr auf dem Weg zum Sportgelände zu denken: So dauerte die Anfahrt bisweilen länger als das Training selbst, was später als Ausrede für das klägliche Vorrunden-Aus diente.

Diesmal will England anders als in den vorherigen Turnieren mit einem starken Kollektiv überraschen. Auf dem Weg zur WM nach Russland hat Southgate einige bekannte Spieler aussortiert, darunter den Rekordtorschützen Wayne Rooney und den Torhüter Joe Hart. England hat den jüngsten und nach Länderspieleinsätzen unerfahrensten Kader aller WM-Teams; das soll durch einen hohen Eigenantrieb wettgemacht werden: Die Spieler wollen sich bei der WM beweisen, auch um ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen.

Zu verlieren haben die Three Lions wenig nach den enttäuschenden Darbietungen früherer Jahre, vorausgesetzt, dass das Team nicht schon in der Gruppenphase an Tunesien, Panama und Belgien scheitert. Das Auftaktmatch in Gruppe G im 1 500 Kilometer entfernten Wolgograd am Montag gegen Tunesien wird richtungweisend werden; die zweite Partie findet dann in Nischni Nowgorod, 900 Kilometer entfernt, gegen Panama statt. Damit sich das Quartier in der Stille der Waldlichtung in Repino logistisch lohnt, müsste Southgates Team übrigens Gruppenerster werden und das Halbfinale erreichen. Sonst hätte England absurderweise stundenlange Reisen zu weit entfernten Spielorten auf sich genommen. Aber nicht vor der eigenen Haustüre gespielt, im Stadion von Sankt Petersburg.

© SZ vom 16.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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