BVB in der Champions League:Dortmund zelebriert Kirmes-Fußball

Von Felix Meininghaus, Dortmund

Nach etwas mehr als einer halben Stunde versammelten sich alle Spieler von Borussia Dortmund am Fünf-Meter-Raum, um ihren Häuptling mit der Kapitänsbinde im inniger Umarmung zu umschließen. Das Kränzchen wiederholte sich kurz nach der Halbzeit und dann noch einmal in der Nachspielzeit. Betrachter konnten den Eindruck gewinnen, dass in der Männergruppe große Gefühle entstehen. Dabei zelebrierte der BVB schlicht eine Rückkehr. Und zwar die von Marco Reus, der sich nach einem halben Jahr im Krankenstand triumphal zurückmeldete. Er führte gleich mehrmals das vor, was er am liebsten macht: Tore schießen.

Dem Dortmunder Jung' Reus gelangen gegen Legia Warschau beim 8:4 (5:2) mindestens zweieinhalb Treffer - den dritten wertet die Uefa als Eigentor. Ja, richtig. Acht! Zu vier! Alle weiteren Torschützen stehen hier. Und natürlich fragte man sich, was jetzt spezieller war: Das Ergebnis dieses Kirmesspiels oder Reus' Glanz-Auftritt? Trainer Thomas Tuchel tendierte zu letzterem, er sprach von einem "unglaublichen Comeback. Marco bringt eine Qualität auf den Platz, die uns seit Monaten schmerzlich fehlt." Es war die Gala eines Profis, der in seiner Laufbahn so viel verpasste, weil er so oft verletzt war. Sie hatte tatsächlich spektakuläre Züge. Aber mal ehrlich: Was war das bitte für ein schräger Abend, der so viele Dinge bot, die in normalen Fußballspielen nicht zu sehen sind?

Im Dortmunder Stadion ging es zu wie in einem Swingerklub: Alles war möglich, weil es keine Tabus gab. Es wirkte, als seien die 55 000 Besucher im Stadion an der B1 Zeuge eines Feldversuchs der Uefa. Der Gegner darf in der Abwehr nur eskortiert, aber nicht attackiert werden. Nie zuvor hat es in der Geschichte der Champions League ein solches Spiel gegeben, die Rekorde purzelten wie die Hölzer beim Preiskegeln in der Eckkneipe. Die alte Bestmarke vom 8:3 bei der Partie Monaco gegen La Coruña aus dem Jahre 2013 ist Geschichte, auch sechs Tore in der ersten halben Stunde gab es noch nie.

Die Zuschauer bestaunten den ersten Doppelpack eines Japaners (Shinji Kagawa) und den jüngsten deutschen Torschützen (Felix Passlack, 18 Jahre alt). 14 Treffer gegen einen Gegner in Hin- und Rückspiel sind in der Königsklasse ebenso eine Novität wie die 14 verschiedenen Torschützen in einer Spielzeit, die der BVB schon zum Ende der Vorrunde präsentieren kann.

Die 90 Minuten glichen einer anarchischen Rummelpurzelei, in der alle Regeln außer Kraft gesetzt wurden, die sonst für das Spiel Gültigkeit besitzen. Das wilde Treiben auf dem Rasen hatte nur rudimentäre Ähnlichkeit mit dem, was gemeinhin unter dem Gütesiegel Champions League dargeboten wird. Schön war's trotzdem - für die Fans.

Weidenfeller hat ein großes Problem

Tuchel tat sich schwer, angemessene Worte zu finden. Dieses Spiel sei "irgendwie surreal", sagte er. Irgendwie könne man ihm "kaum sachlich begegnen bei diesem Ergebnis". Immerhin bot die Show eine Bühne, um die Rückkehr von Marco Reus mit Konfetti und Lametta zu garnieren.

Er habe sich "riesig gefreut", sagte der Mann des Abends. "So stellt man sich einen Einstand nach so langer Zeit vor. Das war heute ein wichtiger Schritt für mich." Reus hielt die kompletten 90 Minuten durch, was nicht schwer war, "weil das Spiel so intensiv nicht war", wie Tuchel treffend feststellte. Nach dem Schlusspfiff schnappte sich der Stürmer den Ball. "Den lasse ich von allen unterschreiben, er bekommt bei mir einen Ehrenplatz."

Der zweite Dortmunder Protagonist stand am anderen Ende des Spielfelds und war überhaupt nicht in Feierlaune. Im Gegenteil, Roman Weidenfeller hatte es die Laune gründlich verhagelt. Dieser Abend sei "toll für die Zuschauer im Stadion" gewesen, "für einen Torhüter allerdings bescheiden". Tatsächlich war der Routinier zu bedauern, dabei hätte er doch aufgebaut werden müssen. Schließlich soll er für seinen Verein Punkte retten, bis die Nummer eins Roman Bürki zurückkehrt. Dies sei "mit das Schlimmste, was passieren kann", hatte Tuchel mitgeteilt, nachdem sich der Schweizer mit einem Mittelhandbruch bis Ende Januar abgemeldet hatte.

Nun stellte der Trainer seine Aushilfskraft vor ein Mammutproblem, indem er vor ihm eine Abwehrreihe formierte, die diesen Namen nicht verdiente. Entsprechend bedient war Weidenfeller: "Es gibt Punkte, über die wir reden müssen", schimpfte der 36-Jährige. "Wir spielen in der Champions League, da musst du die Räume schließen und aggressiv zur Sache gehen." Das alles war nicht der Fall, und deshalb wurde Weidenfeller schwer verunsichert, anstatt ihn für all die Aufgaben aufzubauen, die bis zur Winterpause auf der Agenda stehen. Die Situation war für den Torhüter "nicht angenehm, ich kam mir fehl am Platz vor".

Tuchel zeigte Verständnis: "Er ist zurecht sauer". Nun hat Dortmunds Trainer bis zum schweren Auswärtsspiel in Frankfurt Zeit, seinen Keeper aufzurichten. Tuchel denkt zwar nicht, "dass er mit seiner Erfahrung meinen Zuspruch benötigt, aber den kriegt er ja sowieso." Der kurzfristige Arbeitsauftrag liegt auf der Hand: Es gelte nun, "bis Samstag sicherzustellen, dass Roman zu null spielen kann".

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