Kulturhauptstadt 2010: Ruhr/Essen:Perlen im Ruhrgebiet

Nicht nur graue Industrieregion, sondern moderner Ballungsraum mit einer europaweit wohl einmaligen Ansammlung von Theatern, Museen und Kultureinrichtungen - Essen und das Ruhrgebiet agieren selbstbewusst.

Die Tribüne unter freiem Himmel auf Essens Zeche Zollverein steht schon und Ruhr.2010-Chef Fritz Pleitgen wünscht sich drei Mal täglich gutes Wetter für den 9. Januar: Mit einem Fest in der stillgelegten Großzeche startet dann nach drei Jahren Vorbereitung das Kulturhauptstadtprogramm im Ruhrgebiet.

Essen und 52 Revierkommunen von Sonsbeck am Niederrhein bis Hamm in Westfalen wollen zeigen, dass sie nicht nur graue Industrieregion "tief im Westen" sind, sondern ein moderner Ballungsraum mit einer europaweit wohl einmaligen Ansammlung von Theatern, Museen und Kultureinrichtungen. Neben Essen samt Ruhrgebiet werden 2010 auch Istanbul und das ungarische Pécs EU-Kulturhauptstädte sein.

300 Projekte haben Pleitgen und sein inzwischen auf 100 Leute angewachsenes Organisationsteam zusammengestellt. 2500 Veranstaltungen sind geplant - Volkstümliches wie ein Kulturtag an Biertischgarnituren auf der gesperrten Ruhrgebietsautobahn A 40 mit Stegreiflesungen und Posaunenchor oder ein gemeinsamer "Day of song" in allen Ruhrgebietsstädten mit abschließendem 65.000-Stimmen-Konzert im Stadion auf Schalke. Dabei darf "Glück auf, der Steiger kommt" natürlich nicht fehlen.

Künstlerisch Hochstehendes gibt es gleich daneben im Programm - etwa die Homer-Neuinterpretationen aller Ruhr- Theater "Odyssee Europa" oder die Konzertreihe rund um den zeitgenössischen Komponisten Hans Werner Henze.

"Wir wollen den Mythos Ruhr suchen und damit unsere eigenen Wurzeln", sagt der gebürtige Duisburger und ehemalige WDR-Intendant Pleitgen: Die Identität einer Region mit 5,3 Millionen Menschen aus weit über 100 verschiedenen Ländern, die nach mehreren Einwanderungswellen und nicht ohne Konflikte durch harte Arbeit zusammengewachsen sind.

Manches aber nicht alles an diesem Bild ist Klischee: Zechen gibt es zwar nur noch fünf im Ruhrgebiet, die nächste schließt im Herbst des Kulturhauptstadtjahres in Hamm, aber viele Menschen an der Ruhr lieben weiter die klare Sprache der Kumpel unter Tage und messen den Nachbarn an seinen Taten und nicht am Farbton der Haut. So gilt etwa Duisburg mit der bundesweit größten Moschee im Arbeiterviertel Marxloh als ein Vorzeigeprojekt für friedliches Zusammenleben von Christen und Moslems.

"Melez" ("Mischling") ist auch eines der Leitprojekte des Festivals. Um die "Kunst des Zusammenlebens" besser zu verstehen, reist ein Kulturzug mit Kunst, Tanz, Musik aus den Kulturen Europas durchs Revier, gleichzeitig laufen öffentliche Diskussionen und Seminare zum Thema Integration in der Bochumer Jahrhunderthalle.

Unerwartet knausrige Sponsoren

Pleitgen will in der Arbeiterregion Ruhrgebiet ein für alle verständliches Programm. Deshalb wird auch Integration direkt vermittelt - etwa durch eine vergleichende Modeschau mit Kollektionen aus sechs Ländern und ein internationales Kochprojekt. Dabei tauschen alte Menschen von der Ruhr und aus der ungarischen Kulturhauptstadt Pécs Rezepte aus. Es wird nicht nur geredet, sondern später auch gekocht und öffentlich aufgetischt.

Die Kulturhauptstadt hat an der Ruhr einen Bauboom mit allein 120 Millionen Euro an Landes- und Europafördergeldern ausgelöst. Jahrzehntelang aufgeschobene Projekte wie die Renovierung der Bahnhöfe in Essen und Dortmund wurden endlich angepackt, für Millionensummen entstehen fünf Besucherzentren, die auch nach 2010 Ruhrgebietsbesucher leiten werden.

Dortmund bekommt das 46 Millionen Euro teure Kulturzentrum "U", Hagen ein neues Museumszentrum und in Essen hat die Krupp-Stiftung 55 Millionen Euro für ein neues Folkwang-Museum auf den Tisch gelegt, das Ende Januar Eröffnung feiert.

Wacklige Finanzplanung für 2010

Der Glanz der Neubauten kann aber nicht verdecken, dass die Wirtschaftskrise auch in die 2010-Planungen ein großes Loch gerissen hat. Viele potenzielle Sponsoren zeigten sich unerwartet knauserig. Für die 53 Teilnehmerstädte musste das Land extra ein 10-Millionen- Sonderprogramm auflegen, weil viele im Nothaushalt operieren und gar keine Sonderausgaben für ihre Kulturbeiträge einplanen durften.

Angesichts der knappen Kassen musste mit der Öffnung der Zeche Zollverein 1000 Meter tief unter Tage für Besucher ein Schlüsselprojekt begraben werden, im Oberhausener Gasometer - einem der populärsten Punkte des Ruhrgebiets - wurde eine groß angelegte Religionenausstellung gestrichen, zu der Optimisten am liebsten den Papst und den Dalai Lama gesehen hätten. In Bochum stand das Projekt des bekannten Konzeptkünstlers Jochen Gerz "Platz des europäischen Versprechens" erst ganz auf der Kippe, weil die Stadt die Vorstellungen des Künstlers nicht bezahlen konnte. Jetzt soll es abgespeckt fortgesetzt werden.

Klischees überwinden

Alles in allem zeigt Pleitgen sich wenige Tage vor der Eröffnung dennoch zufrieden: "Wir haben eine Punktlandung im Schlamassel hingelegt." Der 62,5 Millionen-Euro-Etat der Kulturhauptstadt steht, immerhin elf Millionen Euro plus fünf Millionen Euro an Sachleistungen kommen von Sponsoren. Gerettet wurde auch das Vorzeigeprojekt "Schachtzeichen" mit großen gelben Gasballons über den ehemaligen Förderanlagen im ganzen Revier. Aus dem Weltall fotografiert, sind einmalige Bilder zu erwarten.

Und dass im Ruhrgebiet vor lauter Kohlenstaub angeblich die Wäsche beim Trocknen auf der Leine schwarz wird - dieses Klischee will Pleitgen nach einem Jahr Kulturhauptstadt endgültig überwunden wissen.

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