Downhill in den italienischen Alpen:Wer bremst, verliert

Italien: Downhill-Mountainbiken in Livigno

Auf über 20 Trails kommen Mountainbiker in der Livigno-Region mehr oder weniger schnell ins Tal.

(Foto: Markus Greber)

Dank der Mountainbiker hat Livigno jetzt auch im Sommer Saison - und wie beim Skifahren gilt: Ein bisschen Technik schadet nicht.

Von Johanna Pfund

Für die Aussicht bleibt keine Zeit. So schön die Ortler-Gruppe und jene des Bernina hier, oberhalb von Livigno, auch zu sehen sind: Alle Konzentration gilt dem sandigen, breiten Pfad, der sich wie eine Schlange durch die steinige, karge Landschaft zur Liftstation hinab windet. Es ist der erste Versuch mit dem Downhill-Bike, einem vollgefederten natürlich. "Jetzt noch den Sitz absenken", empfiehlt Bike-Guide Morris Parricchi vor dem Start. Seine zweite Mahnung: "Vorsichtig bremsen vor den Kurven, keinesfalls abrupt die Vorderbremse einsetzen, sonst bockt das Rad und man steigt unschön über den Lenker ab." Der Helm sitzt, Knie- und Ellbogenschützer auch. Morris versichert, dass dieser frisch angelegte Trail hier im Carosello-Skigebiet eigens für Familien, Kinder und Anfänger konzipiert worden ist. Ein sogenannter Flow-Trail ohne steile Stufen oder Felsbrocken im Weg. Es kann quasi gar nichts schiefgehen.

Die Vollfederung ist angenehm, die Reifen greifen gut auf dem sandigen Untergrund. Ein wenig mulmig wird es einem aber doch. Wie weit darf man sich in die Kurve legen, ohne dass die Räder wegrutschen? Da hilft wieder der Tipp von Morris: "Das Rad fährt in die Richtung, in die du schaust." Das funktioniert tatsächlich besser als gedacht. An der abschüssigsten Stelle, die in eine scharfe Kurve mündet, bleibt der Guide stehen und leitet die Radfahrer mit Gesten.

Danach geht es ohne Hilfe Kurve für Kurve nach unten. Auf einem Flachstück ist eine Schanze eingebaut, die man mehr oder minder sportlich bewältigen kann. Und wer Spaß an der Sache gefunden hat, kann seine Geschicklichkeit auf einer kleinen Bretterrampe nah am Abgrund testen.

Alles gar nicht so schwierig, aber es kommt einem fast so anstrengend vor wie Aufwärtsradeln. Muss man hier aber nicht. Praktischerweise haben sie in Livigno den Skibetrieb einfach auf den Sommer übertragen. Wo im Winter die Ski an der Gondel stecken, wird jetzt das Rad eingehängt. Die Trails sind wie die Pisten im Winter in die Schwierigkeitsstufen Blau, Rot und Schwarz eingeteilt. 115 Pistenkilometer und 33 Lifte bietet Livigno im Winter. Im Sommer sieht das aktuell so aus: eine Handvoll laufender Lifte auf jeder Bergseite, 14 Bike-Trails am "Mottolino Fun Mountain" auf der Ostseite des Tals, auf der Westseite mit der Carosello-Bahn führen zehn markierte Trails nach unten.

Begonnen hat die Entwicklung zur Downhill-Destination mit der Mountainbike-WM 2005 in Livigno. Damals hat man am Mottolino den ersten Bike-Park eingerichtet. Dabei ist es nicht geblieben: In der "Slope Style Area" oder der "Jump Area" sind all jene gut aufgehoben, die den Adrenalinkick bei Sprüngen und an Steilkurven suchen. Die westliche Talseite ist da zurückhaltender, man beschränkt sich dort auf Trails - hat aber erkannt, dass die Biker ein gutes Geschäft bringen und die teuren Aufstiegsanlagen besser auslasten. "Die Lifte dort haben heuer so früh mit dem Sommerbetrieb angefangen wie nie zuvor", sagt Mauro Cusini, der Wirt eines kleinen Bike-Hotels. "Jetzt gibt es ein bisschen Wettbewerb zwischen den beiden Seiten, aber das ist das Beste für alle."

Für Cusini jedenfalls ist der Bike-Boom Anlass gewesen, sich bei dem Umbau vor zwei Jahren komplett auf die neue Gästegruppe einzustellen. Ein Radkeller, Hochdruckreiniger, Kompressor und Werkzeug stehen zur Verfügung, damit die Gäste abends in Ordnung bringen können, was tagsüber auf den Trails kaputtgegangen ist. "Wir haben in Livigno jetzt viel mehr Radfahrer als vor vier, fünf Jahren", sagt der 37-Jährige, der schon mit zwölf Jahren seiner Mutter bei der Zimmervermietung assistierte und eigens längere Zeit in Deutschland und England verbrachte, um mit seinen Gästen in ihren Sprachen reden zu können. Jetzt, sagt er, setzen die Tourismusverantwortlichen alles daran, neue Trails und Touren für die Mountainbike-Sportler anzubieten. Die Gemeinde unterstütze die Erweiterung.

Das verwundert nicht, leben die 6000 Livignasci doch ausschließlich von den Gästen. "Es gibt viele Maurer, Handwerker, Spezialisten, aber alle arbeiten irgendwie für den Tourismus", sagt Cusini. Insgesamt 12 000 Betten gibt es, am besten belegt sind sie nach wie vor im Winter. Knapp eine Million Übernachtungen zählte man in der vergangenen Saison, die von November bis Anfang Mai dauerte. Im Sommer waren es knapp 400 000 Übernachtungen, davon seien etwa 40 Prozent Mountainbiker, sagt Michela Martinelli von Livigno Marketing. "Aber der Sommer ist auch viel kürzer, wir haben ja nur drei Monate." Während im Winter polnische Gäste die größte Besuchergruppe darstellten, nutzten im Sommer vor allem Schweizer und Deutsche das Rad- und Wanderangebot.

Das Geschäft mit den Gästen blieb in den Händen der Einheimischen

Der Tourismus ist erst spät in das auf 1800 Metern Höhe gelegene Tal gekommen - den nördlichsten und wohl auch abgeschiedensten Ort der Lombardei. Vom Engadin aus ist Livigno nur über einen Tunnel oder eine der beiden Passstraßen erreichbar, nach Bormio führt ebenfalls eine Passstraße, die aber früher im Winter nicht geräumt wurde. "Bis 1951 waren wir von der Außenwelt abgeschnitten, sobald der erste Schnee gefallen ist", erzählt Bruna Santelli. Die 72-Jährige betreibt im Ort ein Bed and Breakfast. Monatelang seien die Einwohner dann auf sich gestellt gewesen. Die Männer hätten oft in der Schweiz gearbeitet. Der Vorteil: "Sie haben in Davos und St. Moritz gelernt, wie man mit Gästen umgeht", sagt Santelli. Mit dem 1968 fertiggestellten Stausee - unter dem ein Teil von Livigno verschwand - wurde auch der Tunnel ins Engadin hinüber eröffnet, die Anreise aus dem Norden war nun wesentlich leichter.

Die Bewohner von Livigno nutzten geschickt einen alten Vorteil: Seit Jahrhunderten ist der Ort Zollfreigebiet; sie richteten umgehend eine für alle Besucher kostengünstige Tankstelle ein. Das damit verdiente Geld steckten sie in den Tourismus, erzählt Santelli. Bis heute ist das Geschäft mit den Gästen in der Hand der Dorfbewohner geblieben, große Hotelketten und Investoren gibt es kaum. "Die Pensionen und Läden befinden sich alle in unseren eigenen Häusern", so Santelli. Den ganzen Spaß- und Bike-Betrieb mit den Protektoren-bewehrten Sportlern, die nach getaner Arbeit in eigenen Après-Bike-Bars feiern, sieht die 72-Jährige durchaus positiv. "Ich mag es, wie sich Livigno entwickelt hat. Natürlich kann man nostalgisch sein, aber wer die Romantik sucht, findet sie auch hier bei uns."

Downhill in den italienischen Alpen: Rechts geht es zur Einkehr, links bergab: Downhill-Trails im Skigebiet Carosello 3000.

Rechts geht es zur Einkehr, links bergab: Downhill-Trails im Skigebiet Carosello 3000.

(Foto: Markus Greber)

In der Tat. Nur 20 Minuten von der Carosello-Bergstation entfernt hört der markierte Fußweg auf. Nur noch Trittspuren führen über den felsdurchsetzten Grat auf den Piz dal Canton und den Monte Campaccio (3007 m) hinüber auf die Bochéta dal Plan da Váca, eine Passhöhe genau auf der Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Hier kann man mit etwas Glück Gämsen und Steinböcke sehen, ein Schneehase kreuzt den Weg. Von Mountainbikes keine Spur. Lang zieht sich der Weg hinab ins Federia-Tal.

Dort, wo auch der Bike-Trail vom Carosello ankommt, steht eine klassische Almhütte. Es gibt traditionelle italienische Alpenküche mit viel Polenta und Nudeln. Chefin ist die 28-jährige Ilenia Bormolini, die den Laden mit der gesamten Familie betreibt. Vater und Bruder versorgen Milchkühe, dazu Ziegen, Angusrinder und Pferde. Für die junge Frau ist der Agriturismo ein Knochenjob: "Es ist viel Arbeit, zwölf bis 15 Stunden am Tag, aber das ist mein Ding." Die Kundschaft habe sich geändert, sagt sie, seit die Radfahrer intensiv umworben werden. "Familien kommen zwar auch noch, aber inzwischen besuchen uns immer mehr E-Biker, die das Tal hinaufradeln."

Denn abseits der Bike-Parks und des Skigebiets hat Livigno eine ganze Reihe von Mountainbike-Routen in den verschiedensten Schwierigkeitsstufen ausgewiesen. Das Val Federia zählt dazu. Ambitioniertere Sportler können sich zum Beispiel zum Stilfser Joch nach Südtirol hinüber transportieren lassen und von dort aus über mehrere Berge und Täler zurück nach Livigno fahren. Zuvor empfiehlt sich aber eine Trainingsrunde auf den Trails - damit man lernt, wie sandige Kurven und steile Stufen zu nehmen sind - denn wie beim Skifahren hilft ein wenig Technik bei der Abfahrt doch recht viel.

Informationen

Anreise: Mit dem Auto von Norden über Landeck, Zernez im Engadin und den Tunnel Munt la Schera nach Livigno. Der Tunnel ist mautpflichtig und nur einspurig befahrbar, mit Wartezeiten ist zu rechnen. Von Bormio aus ist der Ort über den Passo di Foscagno zu erreichen. In den Sommermonaten ist auch die Straße vom Engadin über die Forcola di Livigno geöffnet.

Unterkunft: Hotel le Alpi, Übernachtung für zwei Personen im Doppelzimmer mit Frühstück ab 102 Euro, www.hotelalpilivigno.com. Weitere Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen finden sich auf der Seite der Tourist-Information: www.livigno.eu

Informationen zu Bergbahnen, Bike-Park, Trails und Guides: www.mottolino.com und www.carosello3000.com; www.mtblivigno.eu

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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