Wissenschaftler widersprechen Gauck-Kritik an "Occupy"-Protest:"Alles andere als albern"

Bürgerrechtler und Ex-Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck tut die kapitalismuskritischen Proteste als "albern" ab. Falsch, kontern namhafte Sozial- und Politikwissenschaftler. Einzelne Demonstranten mögen skurril sein, einige Forderungen naiv, aber die Probleme sind real - und die Politik reagiere bereits auf den Druck der Straße.

Markus C. Schulte von Drach und Oliver Das Gupta

Die Reaktionen auf die Proteste am Wochenende waren vielfältig und überraschend. Für besonderes Aufsehen sorgten allerdings die Aussagen von Joachim Gauck. Der ehemalige Bundespräsidentschaftskandidat und Bürgerrechtler hat sich bei einer Veranstaltung in Hamburg über die Finanzmarkt-Debatte ausgelassen - und sie als "unsäglich albern" abgetan. Der Traum von einer Welt, in der man sich der Bindung von Märkten entledigen könne, sei eine romantische Vorstellung, kritisierte Gauck mit Blick auf die neue Protestwelle, die als "Occupy Wall Street" in New York begonnen hat und am Wochenende auch nach Deutschland schwappte.

Hat Gauck recht - ist der Protest nicht ernst zu nehmen, ist er gar töricht? Sozial- und Politikwissenschaftler widersprechen. "Antikapitalismus ist nicht albern", sagt Hubertus Buchstein, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald, zu sueddeutsche.de: "Es sind doch sehr ernsthafte Fragen, ob man Alternativen zum Kapitalismus sucht, oder ob man innerhalb des Kapitalismus stärkere Regulationen, etwa Finanzmarktregulationen, einführt."

Der Wissenschaftler weist darauf hin, dass etwa in den USA und Spanien - Länder, in denen die Kapitalismusgegner schon länger auf die Straße gehen - "massive soziale Problemlagen" existierten: In Spanien grassiert die Arbeitslosigkeit besonders unter Akademikern und jungen Leuten, also bei den mobilisierungswirksamen Kräften.

Gaucks Einschätzung teilt auch Thorsten Faas von der Universität Mannheim nicht: "Die Form der Proteste mag zum Teil albern anmuten, aber die Probleme, die dahinterstehen, sind alles andere als albern". Der Junior-Politikprofessor hat sich unter anderem mit Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und ihren politischen Folgen beschäftigt. Er sagt, das Problem Arbeitslosigkeit und die Angst davor bleibe meist im Unsichtbaren. In diesem Sinne hält er die öffentliche Empörung für "überfällig".

Ähnliche Standpunkte vertritt Dieter Rucht, Professor am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Wie Buchstein kritisiert er Gaucks Behauptung von den "albernen" Protesten. Zugleich räumt er ein, dass einzelne Forderungen der Demonstranten "ziemlich naiv" seien. Wie zuvor zum Beispiel bei Protesten gegen die Atomkraft werden auch immer "skurrile Typen" von solchen Aktionen angezogen. Diese würden manchmal von Medien porträtiert, als wären sie repräsentativ für die Demonstranten, kritisiert Rucht - "was sie in der Regel aber nicht sind".

Tatsache sei, dass inzwischen weltweit Druck auf die Politiker ausgeübt werde, Banken und Finanzmärkten strengere Zügel anzulegen, so Rucht mit Blick auf die zahlreichen Reaktionen aus der Politik und Wirtschaft. Inzwischen hat selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel großes Verständnis für die weltweiten Proteste geäußert, Ähnliches war quer durch alle im Bundestag vertretenen Parteien zu vernehmen.

SPD-Chef Sigmar Gabriel etwa brachte sogar eine Zerschlagung von Banken ins Spiel, eine weitgehende Forderung, die Rucht für eine "gewisse Anbiederung" hält. Sozialforscher Buchstein hält es für legitim, wenn sich Parteien so zu profilieren suchen - schließlich sollen sie auch resonanzfähig sein für Stimmungen aus der Bevölkerung.

"Taktik ist immer dabei", sagt Buchstein und weist gleichzeitig auf die schwarz-gelbe Regierung hin. Da sei etwa Finanzminister Wolfgang Schäuble von der CDU, der eine Transaktionssteuer befürworte. Und da gebe es die FDP, die "gewisse Dinge auf Bundesebene" verhindere, was den Wissenschaftler hadern lässt: "Es ist doch absurd, dass ich eine Partei habe, die mal 14 Prozent hatte, jetzt aber keine so große politische Bedeutung mehr hat, aber diese Dinge zu blockieren scheint."

Docken die Kapitalismuskritiker bei den Piraten an?

Gauck prophezeite den Bürgerprotesten gegen die Banken und das Finanzsystem ein baldiges Ende. Sie werden nicht zu einer dauerhaften Protestbewegung entwickeln, kanzelte Gauck ab. "Das wird schnell verebben."

Das aber, so widerspricht Buchstein, könne man nicht seriös vorhersagen. "Sollte es in den nächsten zwei, drei Wochen zum Beispiel zum Griechenland-Crash kommen oder zu einer Entschuldung, bei der die Banken nicht mitmachen, dann kann sich aus dieser Geschichte noch etwas entwickeln." Außerdem spiele es eine Rolle, wie Politik und Medien auf die Proteste reagieren.

Allerdings hänge die Form des Protests auch von banalen Faktoren wie dem Wetter ab. Camps wie das vor der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt würden sich in der Kälte nicht auf lange Sicht halten, stimmt Rucht zu.

Dass die Occupy-Bewegung sich verändern muss, wenn sie Erfolg haben will, sagte der Politologe Claus Leggewie bereits am Wochenende im Interview mit sueddeutsche.de. Die Aktivisten müssten die öffentliche Emotion "zivilisieren und auf institutionelle Füße setzen", sagte Leggewie: "Es ist wichtig, den zornigen Protest in ein bürgergesellschaftliches Engagement umzuwandeln, das von Dauer ist, das ein Thema hat."

In Deutschland dürfte es eine neue Sammelbewegung allerdings zusätzlich schwer haben: Etablierte Organisationen wie Attac, die Gewerkschaften und auch die Parteien könnten das Potential der Empörten aufsaugen - und so die Bildung einer neuen organisierten Kraft unnötig machen. Und gerade die Politik könnte Rucht zufolge den Zornigen auf der Straße "Wind aus den Segeln nehmen" - indem sie handelt.

Politologe Faas sagt, die Aktivisten müssten Verbündete im parlamentarischen System finden, um dauerhaft zu agieren. Möglicherweise könnten die Kapitalismuskritiker bei der Piratenpartei andocken: Die politischen Newcomer setzen sich für eine weitgehende öffentliche Grundversorgung ein - Ziele, die sich mit denen der Occupy-Bewegung überschneiden.

Aber auch ohne Organisation könnte die öffentlich zur Schau gestellte Wut auf Auswüchse des Kapitalismus etwas erreichen. Rucht vermutet, dass immer wieder Proteste aufflackern, die in ihrer Wirkmächtigkeit nicht zu unterschätzen sind. Der Forscher weist darauf hin, dass viele Politiker auch die Anti-Atom-Aktivisten anfangs für "Idioten" hielten, die "keine Ahnung haben". Das hat sich bekanntlich geändert: Nun ist der Atomausstieg Regierungslinie einer konservativ-liberalen Bundesregierung.

Einer der Autoren debattiert unter twitter.com/oliverdasgupta

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