Occupy-Proteste und Finanzmärkte:Gauck findet Antikapitalismus-Debatte albern

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Weltweit demonstrieren Hunderttausende gegen die Macht der Märkte, doch Joachim Gauck glaubt nicht an die Bewegung: Der Ex-Bürgerrechtler, Ex-Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde und Ex-Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, spricht von "romantischen Vorstellungen" und "Irrtum". Gleichzeitig warnt er vor einer Protestkultur, die "aufflammt, wenn es um den eigenen Vorgarten geht". Die deutsche Neigung zu Hysterie und Angst sei "abscheulich".

Hunderttausende Menschen haben am Wochenende weltweit gegen Macht und Auswüchse der Finanzmärkte demonstriert. Die Proteste erreichten am Samstag nach Veranstalterangaben 951 Städte in 82 Ländern, in Rom und in Lissabon gingen jeweils mehr als 100.000 Bankenkritiker auf die Straße, New York hält die Bewegung "Occupy Wall Street" seit vier Wochen in Atem.

Occupy-Proteste weltweit, hier in San Francisco: Joachim Gauck hält alles für unglaublich romantisch (Foto: REUTERS)

Der ehemalige Bundespräsidentenkandidat Joachim Gauck glaubt dennoch nicht, dass sich die Bürgerproteste zu einer dauerhaften Bewegung entwickeln werden: "Das wird schnell verebben", so Gauck. "Ich habe in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren", erklärte der Bürgerrechtler und leidenschaftliche Anti-Kommunist bei einer Veranstaltung der Zeit in Hamburg in Anspielung auf die Staatsbanken in der DDR.

Die Antikapitalismusdebatte halte er für "unsäglich albern": Der Pastor betonte, dass der Traum von einer Welt, in der man sich der Bindung von Märkten entledigen könne, eine romantische Vorstellung sei. Zu glauben, dass die Entfremdung vorbei sei, wenn man das Kapital besiege, und dann alles schön sei, sei ein Irrtum.

Gauck fragte, ob es nicht zweifelhaft sei, zu glauben, dass unsere Einlagen sicherer wären, wenn die Politiker in der Finanzwirtschaft das Sagen hätten. Mit Blick auf die Proteste beim Bahnprojekt Stuttgart 21 warnte Gauck vor einer Protestkultur, "die aufflammt, wenn es um den eigenen Vorgarten geht". Die deutsche Neigung zu Hysterie und Angst nannte er "abscheulich".

Im Gespräch mit Zeit-Herausgeber Josef Joffe und Redakteur Jochen Bittner forderte Gauck von der Politik mehr Rationalität und eine stärkere Sachdebatte. Man könne wichtige politische Entscheidungen, wie etwa den Ausstieg aus der Kernkraft, nicht von der Gefühlslage der Nation abhängig machen. Genau das aber tue die Regierung Merkel, weil die Furcht vor der nächsten Wahlniederlage das politische Handeln dominiere. "Ich fürchte mich vor einem modernen Politikertyp, der völlig auf Inhalte verzichtet", so Gauck.

Zum Führungsstil von Angela Merkel sagte er: "Mir gefällt ihre Nüchternheit, sie hat nicht diese Gockelhaftigkeit wie viele ihrer männlichen Kollegen." Aber ihm fehle bei der Kanzlerin die Erkennbarkeit. "Ich respektiere sie, aber ich kann sie nicht richtig erkennen." Man müsse klar für das stehen, was man vertritt.

Nicht gefallen dürfte Gauck auch die Forderung von Linke-Parteichef Klaus Ernst nach regelmäßigen Montagsdemonstrationen vor Banken: Bereits 2004, als der Begriff in Zusammenhang mit den Hartz-IV-Protesten fiel, hatte er dies als "töricht und geschichtsvergessen" bezeichnet. Die Montagsdemonstrationen waren ein bedeutender Bestandteil der friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989.

"Das Recht, empört zu sein"

Mehrere Politiker hatten am Wochenende Sympathien für die Protestbewegung bekundet. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte in der ARD, er beobachte die Demonstrationen "mit großer Aufmerksamkeit - ich nehme das sehr ernst". EU und G 20 müssten "überzeugend darlegen können, dass die Politik die Regeln setzt. Und dass wir nicht von den Märkten nur getrieben werden", so Schäuble. Dies sei "der Eindruck, den die Menschen haben. Und diesen Eindruck müssen wir durchbrechen."

Auch Linke, Grüne und Gewerkschaften begrüßten die Proteste. "Zu Recht brandmarken sie das Auseinanderdriften von Arm und Reich", sagte der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer. Der designierte EZB-Chef Mario Draghi äußerte am Rande des Treffens der G-20-Finanzminister in Paris Verständnis. "Junge Menschen haben ein Recht darauf, empört zu sein." Allerdings dürfe der Protest nicht ausufern.

EU-Kommissionschef José Manuel Barroso sagte der französischen Zeitung Le Parisien, die Jugendarbeitslosigkeit sei unerträglich geworden. "Doch Empörung allein reicht nicht, man braucht auch Handeln. Und man muss einfach verstehen, dass wir dort hingekommen sind, weil die Länder über ihre Verhältnisse gelebt haben."

Protestcamps in Hamburg und Frankfurt

Nach den Demonstrationen am Wochenende haben in Hamburg Kapitalismuskritiker nach New Yorker Vorbild ein Protestcamp vor der Zentrale der HSH Nordbank aufgeschlagen. Unter dem Motto "Occupy Hamburg" verbrachten die Demonstranten die empfindlich kalte Nacht zu Montag in acht Zelten sowie teilweise auch nur in Schlafsäcken auf dem Straßenpflaster unter freiem Himmel vor dem Bankhaus.

Auch in Frankfurt am Main harrten Demonstranten die zweite Nacht in Folge in Zelten aus: 150 bis 200 Menschen seien noch in dem Protest-Camp vor der EZB, sagte ein Sprecher der Bewegung "Occupy Frankfurt". Sie wollten auf unbestimmte Zeit dort bleiben. Das Protestcamp war am Samstagnachmittag nach einer Großdemonstration in Frankfurt mit mehr als 5000 Menschen aufgebaut worden.

© sueddeutsche.de/dpa/hai - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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