Verleihung des Friedensnobelpreises:Im Land der leeren Stühle

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Zum ersten Mal seit 1936 bleibt in Oslo der Stuhl für den Träger des Friedensnobelpreises leer. In Liu Xiaobos Heimat China feiern Menschen im Privaten, während die Regierung mit aller Härte vorgeht: Dem Künstler Ai Weiwei wird das Handy abgestellt, Twitter blockiert und Dissidenten werden drangsaliert.

Henrik Bork, Peking

Wer sich in China freut an diesem Freitag, und das sind doch recht viele Menschen, der muss vorsichtig sein. Nur privat können Chinesen ihren Stolz darüber äußern, dass Liu Xiaobo den Friedensnobelpreis des Jahres 2010 bekommen hat. Einer sagt, er werde eine Kerze anzünden. Ein anderer sagt, er habe schon vor Freude geheult, als der Preis angekündigt worden sei, und auch dieser Freitag sei wieder so ein Tag zum Heulen vor Glück.

Symbolische Leere: Der Friedensnobelpreis wurde in Oslo in Abwesenheit an den chinesichen Bürgerrechtler Liu Xiaobo verliehen. Pekings Reaktion auf die Zeremonie fiel harsch aus: Oppositionelle wurden verschleppt und drangsaliert. (Foto: REUTERS)

Nur ganz wenige trauen sich, so etwas auch öffentlich zu sagen. "Neben mir stehen heute beim Abendessen zwei leere Stühle", schreibt Hua Chunhui auf Twitter. Er gehört zu den Mitunterzeichnern der Charta 08, jenes Appells für Demokratie und Menschenrechte, für die Liu Xiaobo zu elf Jahren Haft verurteilt worden ist. Der eine leere Stuhl stehe symbolisch für seine Ehefrau, die gerade wegen politischer Aktivitäten eine einjährige Strafe im Arbeitslager verbüßt. Und "einer ist für ... du verstehst schon", schreibt Hua.

Ein leerer Stuhl also, so wie in Oslo. Es ist ja das erste Mal seit 1936, als die Nazis dem Preisträger Carl von Ossietzky die Reise nach Oslo verwehrten, dass da wieder ein leerer Stuhl steht. Schon ein Kommentar auf Twitter ist wohl gefährlich im heutigen China. So eine Atmosphäre herrscht gerade wieder. Twitter ist ohnehin blockiert - nur eine kleine Minderheit politisch Interessierter und technisch versierter Menschen hat Zugang zu solchen unabhängigen Meinungen.

Dutzende Menschen unter Hausarrest

Dass es aber viele Chinesen sind, die sich an diesem Tag freuen, ist eindeutig zu ermitteln, vor allem durch die hohe Zahl von Hausarresten, Festnahmen, Verschleppungen aus der Stadt aufs Land, und was sich die kommunistische Führung sonst noch einfallen lässt, um die Kontrolle zu behalten. Schon am Donnerstag haben sie Zhang Zuhua auf offener Straße aufgegriffen und in einen Kleinbus gezerrt. Er war gerade auf dem Heimweg vom Mittagessen. Man werde jetzt gemeinsam "verreisen", sagten ihm die Beamten der Staatssicherheit. Auch Zhang ist ein Ko-Autor der Charta 08.

Dutzende von Menschen stehen unter Hausarrest. Liu Xiaobo selbst sitzt in seiner Gefängniszelle in Jinzhou im Nordosten Chinas. Doch auch seine Frau Liu Xia wird daran gehindert, für ihn zu sprechen, wie sie das in den Tagen vor der Ankündigung des Preises getan hatte. Am Freitag zeigte die Polizei vor ihrer Wohnung noch mehr Präsenz als sonst. Sie kontrollierte die Personalien jedes Passanten, der durch das Tor zur Wohnanlage "Nummer neun" wollte.

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Zur Verleihung des Friedensnobelpreises kamen Monarchen, Staatsoberhäupter und Hollywood-Stars in das Osloer Rathaus. Es war der Stuhl in der Mitte des Nobel-Komitees, der leer blieb - Liu Xiaobos Stuhl.

Die Stimmen der Unterstützer Liu Xiaobos, die es in den vergangenen Wochen noch zu hören gab, sind fast verstummt. Ai Weiwei, der international bekannte Künstler und Regimekritiker, ist vor etwa einer Woche daran gehindert worden, ins Ausland zu reisen. Nun ist auch noch sein Handy tot. Das Internet sei ihm abgeschaltet worden, berichten Freunde. Die Liste der Drangsalierten ist wie immer zu lang, um wiedergegeben zu werden. Der Anwalt Teng Biao - in einen Vorort von Peking verschleppt. Der kritische Intellektuelle Cui Weiping - ebenso. Yu Jie, Autor und Kritiker des Ministerpräsidenten - Handy blockiert. Xu Youyus - Handy blockiert. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.

Chinas Regierung und die von ihr kontrollierten staatlichen Medien setzen ihre Kampagne gegen Liu Xiaobo und die Nobelpreisvergabe fort. Die Sprecherin des Außenministeriums, Jiang Yu, die schon vor einigen Tagen die Mitglieder des Nobelkomitees als "Clowns" bezeichnet hatte, beschäftigte sich am Freitag mit dem US-Kongress. Der hatte sich in einer Resolution mit Liu Xiaobo solidarisiert. "Arrogant und unverschämt" sei das, sagte Jiang Yu. Die US-Resolution sei eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas. "Der Kriminelle Liu Xiaobo" sitze zu Recht hinter Gittern.

"Es geht darum, China zu demütigen"

Chinas oberster Außenpolitiker, das Politbüro-Mitglied Dai Bingguo, hatte der US-Außenministerin Hillary Clinton kürzlich auf den Kopf zugesagt, dass Peking glaube, Washington habe die Vergabe des Friedensnobelpreises an den Dissidenten "orchestriert". Es gehe darum, China zu demütigen. Und auch die Regierungssprecherin betonte am Freitag wieder, dass jeder Versuch, über die Menschenrechtsfrage "Chinas Entwicklung zu blockieren", zum Scheitern verurteilt sei. Es ist schwer zu beurteilen, ob die chinesische Führung wirklich einer so paranoiden Weltsicht anhängt, oder ob es nur um den Versuch geht, einen Teil der Meinungshoheit zurückzuerobern. Vielleicht ist es ein wenig von beidem.

Und so ist China an diesem Freitag geteilt. Das offizielle China schäumt. Demokraten und Reformer freuen sich im Verborgenen. Das Nobelpreiskomitee habe China aus der Ferne einen "Segen" geschickt, kommentiert das ehemalige Politbüromitglied Bao Tong. "Herzerwärmend" sei diese Botschaft der Unterstützung für Liu Xiaobo, sagt der 78-Jährige. Er lebt seit vielen Jahren unter Hausarrest. Er hat nichts mehr zu verlieren. Er kann sagen, was er denkt.

© SZ vom 11.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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