Ureinwohner in Brasilien:Protest, den niemand hört

Für Brasiliens Präsident Lula zählt nur eins: der wirtschaftliche Aufstieg seines Landes. Kurz vor der Wahl soll nun mitten im Regenwald der drittgrößte Staudamm der Welt gebaut werden. Die Ureinwohner klagen: "Lula ist ein großer Zerstörer."

Laura Martin

Sie sind aus ganz Brasilien zusammengekommen, um auf ihre Not aufmerksam zu machen: In Mato Grosso do Sul, dem Bundesstaat im Süden des Landes an der Grenze zu Paraguay, sah man in den letzten Tagen besonders viel Menschen mit Kopfschmuck und Körperbemalungen. 800 Vertreter der zahlreichen indigenen Völker Brasiliens trafen sich zu einem Protest-Camp, denn sie alle teilen das gleiche Schicksal: Farmer und Viehzüchter vertreiben die Indianer von ihrem Land, auf dem sie seit Jahrhunderten leben; und immer öfter müssen die Ureinwohner auch Bauprojekten weichen.

Brasilien

800 Vertreter der indigenen Völker Brasiliens sind im Süden des Landes zum Camp "Freies Land" zusammengekommen. Sie protestierten gegen die Vertreibung von ihrem angestammten Land.

(Foto: Gustavo Macedo)

Die Stimmung im Camp ist gedrückt. "Sie nehmen uns unser Land, unser Leben, sie rauben unsere Frauen! Wir sind verzweifelt, wir sind von all dem Kämpfen und Leiden müde. Warum werden wir nicht respektiert?", sagt Marcos Apurinã, im Gespräch mit sueddeutsche.de. Er ist der Anführer der Apurinã, einem indigenen Volk aus dem Amazonas-Gebiet, und weiß nicht, wie seine Leute überleben sollen - ihr Land wird immer kleiner.

Weil in Mato Grosso do Sul die Situation am schlimmsten ist, verzichteten die indigenen Völker auf einen wirkungsvolleren Protest in Brasiliens Hauptstadt Brasília und versammelten sich in dem Gebiet der Guarani-Indianer. Deren Situation zählt zu den schlechtesten in ganz Lateinamerika, so das Fazit des aktuellen Berichts von Survival International, den die Organisation im März der UN vorgelegt hat. Demnach verlieren sie ihr angestammtes Land an Farmer, die Zuckerrohr für den steigenden Bedarf an Ethanol anbauen, und werden "unter unmenschlichen Bedingungen" als Arbeitskräfte missbraucht.

Ihr neues Zuhause ist der Straßenrand, wo sie unter Zeltplanen leben, so die Schilderungen des Berichts. Wer versucht, ein Stück seines Landes zurückzuerobern, wird erschossen. Die Farmer haben für diese Fälle bewaffnete Wächter angestellt, berichtet Survival International. Gezielte Tötungen der Indianerhäuptlinge sollen zudem den Widerstand der Ureinwohner brechen - der sowieso schon schwindend gering ist. Die Selbstmordrate der Guarani ist eine der höchsten der Welt, das jüngste Opfer ist ein neunjähriges Kind.

"Wir werden nicht gehört"

Das Leid der Guarani steht beispielhaft für das Leiden aller indigenen Völker Brasiliens. Darauf wollen die 800 versammelten Indianer aufmerksam machen und haben die vier Präsidentschaftskandidaten sowie die brasilianische Presse eingeladen. Von beiden Seiten kam jedoch keine Reaktion, lediglich lokale Zeitungen zeigten Interesse, berichtet Marcos Apurinã.

"Unsere Proteste haben keine große Wirkung. Wir haben keine Möglichkeit, gehört zu werden." Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Journalisten: Die großen Medien seien von der Regierung beeinflusst und gekauft. "Sie berichten nicht über uns. Es gelingt uns nicht, unsere Stimme gegen die Regierung zu erheben, man gibt uns keine Plattform."

Die Präsidentschaftskandidaten meiden das Thema, das Schicksal der Indigenen bringt keine Stimmen bei den Wahlen im Oktober. Die beiden führenden Kandidaten, Dilma Roussef und José Serra, sind zudem bekannt dafür, das von Präsident Lula ausgerufene "Programm zur Beschleunigung des Wachstums" zu unterstützen. Das Programm soll um jeden Preis für wirtschaftlichen Fortschritt sorgen. In den letzten drei Jahren ist es Präsident Lula damit gelungen, die Inlandskonjunktur in Schwung zu bringen und die Armut zu verringern.

Als Auftakt zu dem Protest-Camp demonstrierten Mitte August etwa 500 Indianer des Amazonas gegen eines der ehrgeizigsten und zugleich umstrittensten Projekte von Lulas Wachstumsprogramm: Im nördlichen Bundesstaat Pará soll mitten im Amazonas-Gebiet der Staudamm Belo Monte ("Schöner Berg") gebaut werden. Der Fluss Xingú, ein Seitenfluss des Amazonas, soll auf einer Länge von 40 Kilometern auf die Größe des Bodensees aufgestaut werden. 500 Quadratkilometer Regenwald sowie Teile der Stadt Altamira würden dabei überschwemmt werden, 20.000 Menschen müssten umgesiedelt werden.

Planungen begannen vor 35 Jahren

Das elf Milliarden US-Dollar teure Projekt ist bereits seit 35 Jahren in Planung, wurde aber auf Grund weltweiter Proteste bisher noch nicht realisiert. Die ersten Pläne wurden 1989 nach Protestaktionen der Ureinwohner und prominenter Unterstützer wie dem Sänger Sting wieder aufgegeben.

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Sie fürchten um ihre Zukunft: Amazonas-Indianer auf einem Protestmarsch gegen den geplanten Mega-Staudamm "Belo Monte". "Nehmt eure kriminellen Finger von unserem Fluss Xingú weg" steht auf dem Plakat.

(Foto: Verena Glass)

Die Regierung rechtfertigt den Riesen-Staudamm mit dem stetig steigenden Energiebedarf des Landes. Belo Monte solle vor allem günstige Energie für die Armen des Landes produzieren. Die Belastung der Umwelt sei ein Preis, den man dafür zahlen müsse. "Es lohnt sich trotzdem", schätzt ein Professor für Elektroenergie im Fernsehmagazin Bom Dia Brasil die Lage ein.

"Der Vorteil der Energie, die durch Belo Monte dem Land zu Verfügung stehen wird, ist größer als der Nachteil der Umweltbelastung." In den Monaten, in denen der Fluss wenig Wasser führt, wird der Staudamm allerdings nur mit etwa 40 Prozent seiner eigentlichen Leistung von 11.000 Megawatt arbeiten können. Trotzdem reiche das noch, um eine Stadt mit elf Millionenen Einwohnern wie São Paulo mit Strom zu versorgen.

Solarenergie kein Thema

Der Bischof der betroffenen Stadt Altamira, Dom Erwin Kräutler, sagte im Interview mit dem brasilianischen Magazin Voz de Nazaré, dass wegen der Trockenmonate weitere Staudämme gebaut werden müssen. Er kritisiert, dass vor Details wie diesen die Augen verschlossen würden. "Es ist einfacher 'Das Land braucht Belo Monte' zu rufen als in tiefergehende wissenschaftliche Studien zu dem Projekt zu investieren. Nach der Hälfte der Zeit würden die Wissenschaftler feststellen, dass wir Belo Monte nicht brauchen." Kräutler hat einen Alternativvorschlag: Der Amazonas biete ausreichend Sonne für Solarenergie.

"Falls das Staudammprojekt aber durchgeführt wird, wird Lula als der Präsident bekannt werden, der den Völkern des Flusses Xingú ein Ende gesetzt hat", bilanziert der Bischof. Denn die indigenen Völker würden allmählich verhungern. Zwar würden keine ihrer Gebiete überflutet werden, aber es würde ihnen die Nahrungsgrundlage entzogen: Dadurch, dass der Fluss Xingú gestaut werden würde, würden die Indianer kein Wasser und damit auch keinen Fisch mehr haben, erklärt Kräutler. Für ihr Hauptnahrungsmittel würden sie kaum Ersatz finden

Der katholische Missionar Luís Claudio Teixeira weist im Telefonat mit sueddeutsche.de darauf hin, dass mit Beginn des Baus viele neue Menschen in das Gebiet kommen werden, für die aber nicht die Infrastruktur vorhanden sei. "Zur Zeit wohnen in Altamira und Umgebung rund 90.000 Menschen. Mit dem Bau des Staudamms rechnet man mit 100.000 neuen Leuten. Wo sollen die alle wohnen? Der Regenwald wird zusätzlich zu dem Damm auch noch unter diesem Faktor leiden."

Marcos Apurinã, der Indianerhäuptling, kämpft beim Treffen in Mato Grosso do Sul auch gegen Belo Monte: "Ich verstehe, dass Brasilien wirtschaftliche Entwicklung braucht. Aber dafür dürfen sie doch nicht töten! Die indigenen Völker werden verhungern! Wir werden alles versuchen, um Belo Monte zu verhindern. Die Regierung tötet uns - also ziehen wir in den Krieg!"

Ein Präsident, der kämpft

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Die Stimmung im Protest-Camp "Freies Land" ist gedrückt, aber aufgeben will niemand. Einer der Häuptlinge sagte vielmehr: "Die Regierung tötet uns - also ziehen wir in den Krieg!"

(Foto: Gustavo Macedo)

Der Wille zum Kampf konnte schon im Juli beobachtet werden. 300 Indianer aus elf indigenen Gruppen besetzten den Dardanelos-Staudamm im Staat Mato Grosso und nahmen 100 Bauarbeiter als Geiseln. Sie gaben an, dass der Staudamm auf der heiligen Stätte ihrer Toten errichtet wird. Sie waren vor dem Bau nicht informiert worden.

"Nach der brasilianischen Verfassung müssen die indigenen Völker angehört und informiert werden, wenn etwas auf ihrem angestammten Land geplant ist", erklärt Letícia Campos vonCOIAB, dem Verband aller indigenen Organisationen des Amazonas-Gebietes, der sich für die Rechte der Ureinwohner einsetzt und seit 30 Jahren gegen den Staudamm Belo Monte kämpft. "Das ist bei Belo Monte nicht geschehen."

Es passt ins Bild eines Präsidenten, der seine Amtszeit mit einem Sieg beenden will. Auf Einmischung von außen reagiert Lula verärgert. So hat sich zum Beispiel Star-Regisseur James Cameron mit Ureinwohnern getroffen und einen ausführlichen Brief an Lula geschrieben. Er sehe sich verantwortlich, die indigenen Völker, deren Notlage sein neuer Film "Avatar" symbolisch darstelle, zu unterstützen, schreibt er. "Wenn die Flüsse Brasiliens lebensnotwendige Arterien sind, dann sind Staudämme wie Blutgerinnsel, die Herzattacken und Schlaganfälle verursachen."

Die Mutter der Damm-Idee als Wahlfavoritin

Lulas Reaktion auf derartige Einmischungen: "Kein Gringo sollte seine Nase in Dinge stecken, die ihn nichts angehen. Wir wissen selbst, wie wir unseren Wald und unsere Entwicklung zu schützen haben." Der Staudamm müsse gebaut werden, egal auf welche Art und Weise. Diese harschen Worte zeigen die kämpferische Natur des Präsidenten, der aus armen Verhältnissen stammt und mit zwölf Jahren die Schule verlassen hat, um als Schuhputzer seiner Familie zu helfen. Er hat sich hochgearbeitet - und lässt sich so schnell nicht beeinflussen.

Seine klaren Worte haben zudem einen aktuellen politischen Hintergrund: Seit Jahresbeginn bemüht sich Lula, die Ministerin des Präsidialamtes, Dilma Roussef, zu einer aussichtsreichen Nachfolgerin zu formen. Und Roussef war es, die als ehemalige Ministerin für Minen und Energie die aktuellen Pläne zum Bau des Staudamms Belo Monte konzipiert hat.

Die Wahlen im Oktober werden Brasiliens Kurs kaum ändern. Aber immerhin eine der vier Kandidaten gibt den Indianern Hoffnung: Marina Silva war unter Lula Umweltministerin, bis sie 2008 ihr Amt frustriert niederlegte. Sie wolle lieber ihren Job verlieren, als ihren gesunden Menschenverstand, so ihre Begründung. Marcos Apurinã, der Indianerhäuptling, ist überzeugt davon, dass Silva sich für die Indigenen einsetzt, falls sie gewählt wird. "Lula ist ein großer Zerstörer, aber mit Marina Silva könnten wir eine bessere Zukunft haben."

Aufgeben will in dem Protest-Camp niemand. Zwar haben die Präsidentschaftskandidaten keine Reaktion gezeigt, die indigenen Völker fertigten aber trotzdem ein gemeinsames Schreiben an, das sie ihnen zukommen lassen wollen. Die Verantwortung liege aber nicht nur bei der brasilianischen Regierung, so Apurinã. An großen Bauprojekten wie Belo Monte seien oft ausländische Unternehmen beteiligt. Apurinã war deswegen schon in Europa mit seinem Anliegen unterwegs. "Ich bitte die Ausländer, die in die Großprojekte Brasiliens investieren: Schaut auf uns und versteht, dass ihr uns damit zerstört!"

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