Stuttgart 21:400 Demos und kein Ende in Sicht

Montagsdemo Stuttgart 21 Bahnhof Kopfbahnhof Demonstration Deutsche Bahn

Demonstranten auf der 400. Montagsdemo gegen das Großbauprojekt Stuttgart 21.

(Foto: dpa)
  • In Stuttgart demonstrieren die Gegner von Stuttgart 21 zum 400. Mal.
  • Der Widerstand gegen die Tieferlegung des Hauptbahnhofs hat die Republik verändert und einen Machtwechsel in Baden-Württemberg herbeigeführt.
  • Ein Ende des Widerstands ist nicht in Sicht.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Würde Georg Wilhelm Friedrich Hegel, so er denn noch am Leben wäre, den Tiefbahnhof befürworten? Würde der Philosoph das Projekt Stuttgart 21 unterstützen, auch wenn es ein paar Milliarden Euro mehr als geplant kostet? Oder würde der größte Sohn der Stadt Stuttgart dort oben auf dem Podium stehen an diesem saukalten Montagabend und einen sofortigen Baustopp fordern? Das wüsste man gern, durchgefroren bis ins Mark. Aber Hegel ist schon lange tot, und seine einzige Botschaft bei dieser 400. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 ist ein merkwürdiger Halbsatz: "... daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist."

Seit 1993 ist diese Leuchtschrift auf der Bahnhofsfassade zu sehen, im selben Jahr begann die Arbeit an der Machbarkeitsstudie für Stuttgart 21. Seither wird der Spruch immer wieder als Botschaft der Deutschen Bahn an die Stuttgarter interpretiert: Seid mutig, lasst die Bedenkenträgerei bleiben. 25 Jahre später fällt es den Projektgegnern leicht, Hegel für sich in Anspruch zu nehmen. Der Bau wird immer teurer, die Fertigstellung rückt in immer weitere Ferne. Nur "diese Furcht zu irren" - also eines Irrtums überführt zu werden - bewege Bahn-Manager und Politiker dazu, weiter zu bauen, sagt an diesem Abend der Hauptredner.

Der Widerstand verdient Aufmerksamkeit

Es ist Winfried Wolf, Buchautor, Verkehrsexperte und ein Kronzeuge des Widerstands. Die Botschaft, die er im Namen des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 verbreitet, richtet sich an Kanzlerin Angela Merkel: Baustopp, Modernisierung des Kopfbahnhofs. Die Baugrube solle zum Mobilitätsdrehkreuz samt Parkgarage und Fernbusbahnhof werden. Es liegen detaillierte Pläne dazu vor. Ein Ausstieg, so heißt es, sei kostengünstiger als der Weiterbau.

400 Montagsdemos, bei Wind und Wetter, bei Hitze und bei Regen. Allein mit diesem Durchhaltevermögen hat sich der Widerstand Aufmerksamkeit verdient. Aber ob jemand ernsthaft glaubt, zur Kanzlerin durchzudringen? Es würde ja dem eigenen Selbstverständnis widersprechen: dass eine Mafia aus Wirtschaft und Politik das verkehrspolitisch sinnlose Projekt Tiefbahnhof durchdrückt, um oben Platz zu gewinnen für undurchsichtige Bauprojekte.

Es wird auch nach der 400. Demo keine Verständigung geben, das zeigt sich schon beim Zählen der Köpfe. 4000 Teilnehmer melden die Veranstalter, 1400 zählt die Polizei. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Das Protestvolk ist ergraut im Laufe der Jahre, routiniert in seinem Zynismus angesichts dieses "mafiösen Drecksprojekts", wie auf einem Schild zu lesen ist. Aber es ist auch viel Jungvolk zu erkennen. Einer Schlafwandlerin gleich huscht eine Frau durch die Menge. Sie trägt um den Hals ein Schild, darauf steht: "reGiERen frisst Hirn". In der Hand hält sie ein Glas, darin flackert eine Kerze. Ein Licht der Hoffnung oder der Trauer? Ein Grablicht der Vernunft? Bevor man fragen kann, ist sie enteilt.

Der Kampf gegen Stuttgart 21 hat die Republik verändert

Es ist leicht, sich über diese Bewegung lustig zu machen. Der linke Stadtrat Gangolf Stocker, in den Anfangsjahren Wortführer des Aktionsbündnisses, sagte in einem Interview: Der Protest trage längst den Charakter einer Marienandacht. Der pseudoreligiöse Anstrich der Bewegung zeigte sich beim evangelischen Kirchentag 2015, als die S21-Gegner den Slogan verbreiteten "Jesus würde oben bleiben". Und die Anlehnung an die Montagsdemonstrationen, die 1989 zum Fall der Mauer führten, zeugt von gehöriger politischer Selbstüberhöhung. Aber muss man sich über den Widerstand lustig machen?

Der Kampf gegen Stuttgart 21 hat, so viel steht fest, diese Republik verändert. Stuttgart 21 ist zur Chiffre dafür geworden, wie der Staat nicht vorgehen darf, wenn er ein Großprojekt durchsetzen will. Offene Kommunikation und Beteiligungsverfahren sind auch dank der Stuttgarter Erfahrungen en vogue geworden. Derart rücksichtlos wollte die CDU-geführte Landesregierung den Bau durchsetzen, dass der Protest binnen kurzer Zeit zur Massenbewegung anschwoll.

Das Aktionsbündnis hat in vielem Recht behalten

Zur ersten Montags-Demo trafen sich am 26. Oktober 2009 noch vier Leute. Zum Höhepunkt, und zugleich am Tiefpunkt, des Widerstands wurde der 30. September 2010. Es war kein Montag, sondern ein Donnerstag, als der brutale Polizeieinsatz gegen die Protestierenden im Stuttgarter Schlossgarten die Stadt und das ganze Land schockierte.

Von der Perlenkettenträgerin aus der Stuttgarter Halbhöhe über den Bosch-Ingenieur bis zum Sozialarbeiter reicht das Spektrum der Widerständler. Und es hat sich sehr viel Sachverstand versammelt unter dem Dach des Aktionsbündnisses. Physiker, Mathematiker, Geologen, Ingenieure, Architekten, Biologen. Sie haben sehr oft Recht behalten, beispielsweise mit den Warnungen vor dem Risiko, im Anhydritboden rund um Stuttgart Tunnel zu bauen. Oder mit dem Hinweis auf die Probleme mit Umwelt- und Artenschutz. Oder mit ihrer Vorhersage, dass die Bahn niemals den vorgegebenen Zeit- und Finanzrahmen einhalten kann.

Die Neuordnung des Bahnknotenpunkts Stuttgart wird laut dem jüngsten Gutachten der Bahn fast acht Milliarden Euro kosten. Man muss keine große Phantasie haben, um sich vorzustellen, dass am Ende zehn Milliarden erreicht werden - jene Summe, die von den Projektgegnern schon lange ins Feld geführt wird. Auch Pläne der Bahn, weniger Züge am geplanten Bahnhof am Landesflughafen halten zu lassen als zugesagt, sorgen für Ärger.

Ohne Stuttgart 21 hätte es keinen Machtwechsel gegeben

Als Zeitpunkt der Fertigstellung wird nun, statt 2021, das Jahr 2024 genannt. Dass die Bahn klagt, es koste unvorhergesehen viel Zeit und Geld, geschützte Eidechsen umzusiedeln, bringt den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann immer wieder auf die Palme: "Eidechsen fallen nicht vom Himmel". Er habe in dem von Heiner Geißler angestoßenen Schlichtungsverfahren davor gewarnt.

Ohne Stuttgart 21 hätte es 2011 wohl den Machtwechsel von Schwarz-Gelb zu Grün-Rot nicht gegeben. Seit der Volksabstimmung 2011 aber, die eindeutig zugunsten des Weiterbaus ausfiel, geben sich die Grünen staatstragend. Sie verabschiedeten sich, wie der Bund Naturschutz, aus dem Aktionsbündnis. Für die Projektgegner sind sie deshalb Verräter und Wendehälse. Zwischentöne kennt der Widerstand nicht. Und so ist neben fachkundigem und hartnäckigem Widerstand auch das Wutbürgertum zum Vermächtnis dieser Bewegung geworden: der Unwillen, die demokratische Legitimation einer Volksabstimmung auch nur anzuerkennen.

"Deutschlands teuerstes, sinnlosestes, korruptestes, kriminellstes und dümmstes Infrastrukturprojekt" prangert an diesem Montag vom Podium aus Volker Lösch an, der vormalige Hausregisseur am Schauspiel Stuttgart. Er sieht beim Stuttgarter Bahnhofsbau den Kapitalismus schlechthin am Werk.

Am 26. Januar wird sich der Aufsichtsrat der Bahn in Berlin mit den jüngsten Kostenprognosen befassen. Das Aktionsbündnis hat angekündigt, vor dem Bahn-Tower bei einer Demo Intransparenz und Demokratieversagen rund um Stuttgart 21 zum Thema zu machen. Der Kampf geht weiter.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: