Russland: Streit um Stalin:"Krieg der Plakate"

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Half Stalin, den Weltkrieg zu gewinnen? Veteranen in Russland sagen ja und wollen zur Siegesfeier Porträts des Diktators zeigen. Das empört Menschenrechtler - und Russlands Führung.

Frank Nienhuysen

Wer sich von Russlands neuer Atomwaffe bedroht fühlt, kann sich beruhigen. Ihre Durchschlagskraft reicht derzeit nicht einmal gegen ein paar Papp-Plakate. Zur Siegesfeier am 9.Mai soll die Interkontinental-Rakete Topol-M erstmals über den Roten Platz geschleppt werden, doch der Stolz der Militärführung wird dieser Tage arg getrübt. Niemand redet über das moderne Raketensystem, aber alle über ein Dutzend Fotos, die demnächst die Straßen und Plätze Moskaus säumen sollen. Die russische Hauptstadt hat dem Wunsch einiger Veteranen-Verbände stattgegeben, zum 65.Jahrestag des Sieges über den Faschismus Stalin-Porträts aufzuhängen.

"Ein Regime, das Millionen Menschen umgebracht hat"

Menschenrechtler reagierten entsetzt: "Stalin ist ein Krimineller, und es ist eine Schande, Plakate eines Regimes auszustellen, das Millionen Menschen umgebracht hat", sagt Ljudmilla Alexejewa, die bekannteste Menschenrechtlerin Russlands. Oft musste sie sich in ihrem Land wie eine Ruferin in der Wüste fühlen, doch nun hat der Streit über die Rolle des früheren Diktators auch Russlands Führung erreicht. Parlamentspräsident Boris Gryslow forderte das mächtige Moskauer Stadtoberhaupt Jurij Luschkow auf, seine Entscheidung zu ändern. "Er ist kein Historiker, sondern Bürgermeister", sagte Gryslow bissig. Er ist nach Ministerpräsident Wladimir Putin der wichtigste Mann in der Regierungspartei Einiges Russland, ein strammer Parteisoldat, der sich ohne Zustimmung des Premiers kaum mit derartiger Wucht gegen Luschkow wenden würde.

Zum 65.Jahrestag des Kriegsendes werden in diesem Jahr auch Soldaten der anderen Siegermächte USA, Frankreich und Großbritannien an der traditionellen Mai-Parade teilnehmen; eingeladen sind Dutzende Staatschefs, unter ihnen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die aufflammende Debatte über die Stalin-Plakate scheint daher dem Kreml die Sorge zu bereiten, dass einige der geladenen Gäste absagen könnten. Putin und Präsident Dmitrij Medwedjew hatten Stalin zuletzt deutlich als Verbrecher bezeichnet, zuvor jedoch der schleichenden Renaissance des Stalin-Kultes lange nichts entgegengesetzt.

Die vernachlässigte Stalin-Debatte

Viele Jahre wurde in Russland eine Debatte über Stalins Verbrechen vernachlässigt. Nun aber drängt bis zum Sieg-Jubiläum am 9. Mai plötzlich die Zeit, und so versucht Russland derzeit in einer Art Schnellkurs, ein wenig von dem Versäumten nachzuholen. Bürgermeister Luschkow stemmt sich gegen den Wind aus dem Kreml und sagt: "Ich bin kein Bewunderer von Stalin, aber ich bin ein Bewunderer von objektiver Geschichte." Russland könne nicht einfach Persönlichkeiten streichen. Die Informationen über Stalin würden neutral sein. Außerdem machten die Stalin-Bilder nur einen kleinen Teil aller Poster zur Siegesfeier aus.

Die Menschenrechtsgruppe Memorial kündigte dagegen einen "Krieg der Plakate" an, um die "Verbrechen des Tyrannen" zu zeigen, und sie wird dabei vom letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow unterstützt. Nicht Stalin habe Russland den Sieg im Zweiten Weltkrieg zu verdanken, sondern der Bevölkerung, sagte Gorbatschow. Das sehen die Kommunisten etwas anders, und auch der Wolgograder Unternehmer Boris Isgarschew. "Ob uns das gefällt oder nicht, doch es war Stalin, der den Krieg gewonnen hat." Zum Jahrestag der Schlacht von Stalingrad ließ er auf das Etikett eines Mineralwassers ein Foto des Diktators drucken. Das Wasser gab es zum verbilligten Preis - als Geschenk an die Veteranen. Frank Nienhuysen

© SZ vom 08.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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