Das Politische Buch:Nüchtern Richtung Republik

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Holzstühle und Ablagekästen: Der Parlamentarische Rat bei der Arbeit. In der Mitte hinten der Präsident des Rates, Konrad Adenauer. (Foto: Erna Wagner-Hehmke/Haus der Geschichte Bonn / Bestand Erna Wagner-Hehmke)

Die Fotografin Erna Wagner-Hehmke dokumentierte die Arbeit des Parlamentarischen Rates 1948/49 in Bonn. Ihre Bildsprache zeigt ein ganz anderes Deutschland als in den Jahren vor 1945.

Von René Schlott

Ernst und konzentriert schauen die Menschen auf den Schwarz-Weiß-Bildern der Düsseldorfer Fotografin Erna Wagner-Hehmke (1905-1992). Zu sehen sind ältere, streng frisierte Herren im Dreiteiler mit Manschettenknöpfen, meist eine Zigarette oder Zigarre in der Hand, und einige wenige Frauen in dunklen Kleidern bei der Zeitungslektüre. Auf den eindrücklichen, doch ganz und gar unpathetischen Porträts festgehalten sind die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die vor einem Dreivierteljahrhundert in der ehemaligen Residenzstadt Bonn am Rhein zusammengekommen waren, um nur drei Jahre nach dem Ende des Krieges darüber zu beraten, wie der neue westdeutsche Staat verfasst sein sollte.

Alltag bei der Arbeit am Grundgesetz: Entspannung bei der Zeitungslektüre. (Foto: Erna Wagner-Hehmke/Haus der Geschichte Bonn / Bestand Erna Wagner-Hehmke)

Die Fotografien entstanden seinerzeit im Auftrag der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, um der Stadt Bonn in der offenen Frage der zukünftigen Hauptstadt mit dem Hauptkonkurrenten Frankfurt am Main Vorteile zu verschaffen. Hermann Wandersleb, Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, hatte die in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt bekannte Fotografin Wagner-Hehmke, seit 1935 alleinige Betreiberin der dortigen "Lichtbildwerkstatt Hehmke-Winterer", damit beauftragt, die Arbeit des Parlamentarischen Rates so fotografisch zu dokumentieren, dass am Ende der Beratungen jede Parlamentarierin und jeder Parlamentarier ein individuell gestaltetes Erinnerungsalbum erhalten sollte, das ihn oder sie bei den Beratungen, bei einer Rede im Plenum oder bei der feierlichen Unterzeichnung der Urschrift des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 zeigte. Damit sollten die Politikerinnen und Politiker, so die Hoffnung von Wandersleb, Bonn in guter Erinnerung behalten und der Stadt in der anstehenden Hauptstadtfrage gewogen gestimmt werden - was letztlich gelang.

Die Mütter des Grundgesetzes (von links): Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber und Helene Wessel. (Foto: Erna Wagner-Hehmke/Haus der Geschichte Bonn / Bestand Erna Wagner-Hehmke)

"Eitelkeit als Triebfeder politischen Handelns war auch 1949 eine kalkulierbare Größe", schreibt der Historiker und Politikwissenschaftler Helge Matthiesen im informativen Begleittext des hochwertig gestalteten Bildbandes, der nun aus Anlass des 75. Jahrestags des Beginns der Beratungen des Parlamentarisches Rates erschien und zahlreiche der Aufnahmen von Wagner-Hehmke versammelt.

Im Stil von Industriefotografien der Neuen Sachlichkeit

Entstanden ist eine Art chronologische, bestens kommentierte Fotoreportage, die von der Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates im naturhistorischen Museum Alexander Koenig am 1. September 1948 (wo an diesem Tag die ausgestopften Giraffen, Bären und Schimpansen entgegen weitverbreiteten Legenden aber nicht etwa zwischen den Abgeordneten standen, sondern verhängt und nicht zu sehen waren) bis zur Wahl des württembergischen FDP-Politikers Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten am 12. September 1949 im neuen Plenarsaal des Bundeshauses. Mit den Bauarbeiten für das Gebäude, das direkt neben dem Tagungsort des Parlamentarisches Rates, der ehemaligen Pädagogischen Akademie, am Rheinufer lag, hatte das Land Nordrhein-Westfalen bereits vor der Entscheidung für Bonn als Bundeshauptstadt begonnen.

23. Mai 1949, 17 Uhr: Konrad Adenauer, Präsident des Parlamentarischen Rates, bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes. Das Titenfass im Vordergrund stand nur zur Zierde da. (Foto: AP/dpa/picture-alliance/Süddeutsche Zeitung Photo)

Auch die Etappen dieser "parlamentarischen" Baugeschichte dokumentierte Wagner-Hehmke mit ihren Aufnahmen im Stil von Industriefotografien der Neuen Sachlichkeit aus der Weimarer Republik. Und auch in anderer Hinsicht hat die Düsseldorfer Fotografin ihren ursprünglichen Auftrag ausgeweitet. Ihre Aufnahmen zeigen nicht nur die 65 Parlamentarier (unter ihnen nur vier Frauen) bei der Arbeit, sondern auch die Menschen, die sonst im Hintergrund stehen: die Mitarbeiter der Fahrbereitschaft und der Poststelle, den Pförtner, Sekretärinnen, Mitarbeiterinnen in der "Vervielfältigungsstelle" und am Fernschreiber, Polizisten und Journalisten bei ihrer Tätigkeit, Musiker, Köche und Kellner sowie neugierige Passanten, die die Beratungen des Rates durch die geöffneten Fenster der Aula verfolgen.

Erna Wagner-Hehmke (Fotos), Helge Matthiesen (Text): Für immer Recht und Freiheit. Der Parlamentarische Rat 1948/49. Greven-Verlag, Köln 2023. 140 Seiten, 30 Euro. (Foto: Greven-Verlag)

Einige der Aufnahmen sind, gemessen an den überraschten Reaktionen der Abgebildeten, Schnappschüsse, die etwa Politiker im vertraulichen Zwiegespräch auf den Fluren zeigen. Andere Fotografien sind erkennbar inszeniert, dienen aber nie der Heroisierung, der propagandistischen Aufladung oder einem Personenkult, wie ihn die Deutschen noch wenige Jahre zuvor erlebt hatten. Sie sind in der gleichen Nüchternheit, Bescheidenheit und Zurückhaltung inszeniert, wie es dem neuen Staatsverständnis entsprach, das in den feierlichen Eröffnungs- und Schlussakten des Parlamentarisches Rates zum Ausdruck kam. "Es war der Stil von Erna Wagner-Hehmke, mit dem die Republik begann", kommentiert Historiker Matthiesen in der dem Band angehängten biografischen Skizze der heute weithin unbekannten Fotografin.

So ist auf allen Fotos von der Unterzeichnung des Grundgesetzes im Vordergrund zwar das prunkvolle, vergoldete Tintenfass aus dem Kölner Ratssilber zu sehen. Doch enthielt der von zwei knieenden Engeln gehaltene Bergkristall an diesem Tag gar keine Tinte, auch wenn Konrad Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates seinen Stift einer Feder gleich vor der Unterschrift effektvoll hineintauchte. Alle Abgeordneten unterschrieben das "Provisorium mit Ewigkeitsklausel", wie Matthiesen das Grundgesetz treffend charakterisiert, mit gewöhnlichen Füllfederhaltern, die die Bonner Firma Soennecken gestellt hatte.

René Schlott ist Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

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