Nationalratswahl in Österreich:"Bitte kehren's vor der eigenen Haustüre"

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Wahlkampfveranstaltung der ÖVP in Wien. (Foto: dpa)

Nach einem Wahlkampf mit Skandalen und bizarren Facetten sind viele Österreicher ratlos - jeder zweite hat sich noch nicht festgelegt. Eindrücke aus einem Land, das sich nach Veränderung sehnt und sie gleichzeitig fürchtet.

Von Oliver Das Gupta, Wien

"Die österreichische Wahl: erst Qual, dann keine Erleichterung. The torture never stops". Armin Thurnher in der Wiener Wochenzeitung Der Falter .

Wien, Fußgängerzone, es ist Samstagnachmittag. Im Graben, einer Einkaufsstraße, wird "Sturm" ausgeschenkt, gärender Traubenmost aus der Südsteiermark. Die Wiener drängen sich um Stehtische, letzte Sonnenstrahlen wärmen, der Durst ist famos. Jetzt wird Politik besprochen. Die Nationalratswahl ist Thema. Etwa 6,4 Millionen Österreicher dürfen an diesem Sonntag wählen, neun Parteien treten bundesweit zur Wahl an. Das Endergebnis soll zwischen 19 und 20 Uhr feststehen.

"Politisch samma eh fast olle", sagt einer. Ein Paar Mitte vierzig erzählt, dass sich wohl nichts ändern wird. Sozialdemokratische SPÖ und konservative ÖVP würden weiterregieren. Aber es sollte sich schon etwas ändern, da sind sich alle anwesenden einig. Nur was? Sie wähle SPÖ, sagt die Frau, so wie ihre Eltern, aber ihr Sohn sei begeistert "vom Strache".

Ein älterer Herr im Anzug schiebt sich an den Tisch. Er habe sich Strache am Vorabend kurz angeschaut, erzählt er. Ein paar Meter weiter, am Stephansplatz vor dem Dom, war der Chef der rechtspopulistischen FPÖ aufgetreten. Es habe ihm gar nicht gefallen, wie der gegen Ausländer und gegen Europa agitiert hat, sagt der Senior, er wähle ÖVP. Er sei 90, habe alles miterlebt: Den Bürgerkrieg, den Anschluss an Hitler-Deutschland 1938, den Krieg, die Aufteilung Österreichs durch die vier Siegermächte, die Souveränität 1955.

"Ich bin nicht mit allem einverstanden, was die in Europa machen", sagt der Pensionist und ehemalige Stadtplaner, "aber wir müssen Europa zusammenhalten". Die große Koalition sei nicht gut für Österreich, sagt er, sie dauere schon ewig. Es sollte sich etwas ändern. Nur was? Eine Dreier-Koalition? Lieber nicht, sagt er, denn "dann wird das Regieren ja noch schwerer". Die anderen am Tisch nicken.

Das austriakische Dilemma - Veränderung ja, aber lieber doch nicht - spiegelt sich auch in Umfragen wider. Die Erhebungen deuten darauf hin, dass vor der Wahl nach der Wahl sein wird: Die SPÖ von Bundeskanzler Werner Faymann wird wohl stärkste Kraft und setzt die rot-schwarze Koalition fort, damit rechnen die meisten Österreicher unterschiedlicher Parteiausrichtung, die man in diesen Tagen anspricht.

Musik steckt in diesem Urnengang trotzdem: Etwa die Hälfte der Wähler hat sich Umfragen zufolge bis zuletzt nicht entschieden. Entsprechend massiv werben die Parteien bis zuletzt um Stimmen auf den Straßen und Plätzen der Bundeshauptstadt: Die SPÖ verteilt Kipferl an Passanten im von Migranten geprägten Viertel Fünfhaus, am Stand der ÖVP vor der Oper sind die Broschüren so hoch gestapelt, dass sie der Wind ringsherum trägt. Polit-Neuling Frank Stronach hat etliche Helfer angeheuert, die sich vor U-Bahnstationen wie an der Johnstraße postieren und Großmüttern schon mal zwei Dutzend Feuerzeuge in die Handtasche kippen: "Für die Freundinnen im Pensionistenheim".

Stronach, der milliardenschwere Unternehmer mit Hang zu bizarren Auftritten - unter anderem zeigte er sich oben ohne und engagierte Dieter Bohlen für einen gemeinsamen Auftritt - dürfte es sicher in den Nationalrat schaffen. Eine andere neue Partei, die Neos, versuchen das liberale Vakuum zu füllen. Auch sie haben realistische Chancen, die Vier-Prozent-Hürde zu überspringen. Weniger gut sieht es für das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) aus: Das parlamentarische Aus von Jörg Haiders letztem Parteiprojekt zeichnet sich ab; das ganz auf Haider zugeschnittene BZÖ hat nach dem Ableben des Rechtspopulisten massiv an Anhängerschaft verloren.

Stronachs Auftreten in der österreichischen Innenpolitik könnte dafür sorgen, dass Haiders Ziehsohn und heutige FPÖ-Anführer Heinz-Christian Strache diesmal weniger Stimmen bekommen wird. Die Rechtspopulisten dürften um die 20 Prozent erhalten, vielleicht auch mehr. Die Grünen können den Erhebungen zufolge mit 13 bis 15 Prozent rechnen.

Sollten alle genannten Parteien ins Parlament einziehen, dürfte die Regierungsbildung besonders knifflig werden. Denn dann dürfte Rot-Schwarz nicht mehr über eine Mehrheit der Sitze verfügen. Manch einer träumt in diesen Tagen von dieser Situation und einem anschließenden Polit-Mikado. "Eine Koalition von Strache und Stronach: Des wär' es!", sagt etwa ein Taxifahrer. "Ich glaube, die Grünen sollten die Chance bekommen, mit den Großen zu regieren", meint ein Mann im Kaffeehaus Sperl. "Die Neos wirken vernünftig", meint eine stark geschminkte Dame im Café Dommayer, "wir brauchen Vernunft in der Regierung und frischen Wind".

Vertrauen haben in Österreich die wenigsten Bürger in die Politiker. Zu viel an "Freunderlwirtschaft" ist inzwischen bekannt geworden, das Dickicht der Skandale von Vertretern von SPÖ, ÖVP und FPÖ sowie des BZÖ ist für die wenigsten überschaubar. Die Grünen, die inzwischen in vier Landesregierungen sitzen, sind von dem generellen Argwohn nicht ausgenommen. "Die haben einfach noch nicht die Möglichkeit gehabt, zu packeln", sagt ein Verkäufer von Korbwaren auf dem Naschmarkt. Er wählt die "eine Partei, die an der Regierung ist", aber schimpft trotzdem über die bestehenden Zustände.

Zu den politischen Kuriosa im Land der Mehlspeisen und der Melange zählt nicht nur eine vorhandene negative Stimmung, die der aus Deutschland stammende Wiener Kabarettist Dirk Stermann damit erklärt, dass die Österreicher schnell und gerne etwas "gschissn" finden. Wählen dürfen auch österreichische Jugendliche ab 16 Jahren. Das erste Wahllokal hat am Klagenfurter Hauptbahnhof um 5.30 Uhr gehöffnet, in den meisten anderen Orten aber erst um 7 oder 8 Uhr. In Vorarlberg machen alle Wahllokale um 13 Uhr dicht, in Wien schließen sie um 17 Uhr. Die Uhrzeiten variieren beträchtlich. Was der Flächenstaat USA bei den Wahlen wegen seiner Größe machen muss, schafft Österreich ganz ohne Zeitverschiebung.

Die Zeitungen sind voll mit der Vorwahlberichterstattung. Prominente outen sich als Anfänger dieser oder jener Partei, die Spitzenkandidaten erklären, wie sie den Wahlabend verbringen und ob sie bald in die Kirche gehen. Die Blätter sind noch einmal voll mit Wahlwerbung.

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Österreichs sozialdemokratischer Kanzler ist Sozialdemokrat und wird in Farblosigkeit nur von seinem konservativen Stellvertreter überboten. Schillernder sind die Kandidaten der kleineren Parteien: Der Milliardär Frank Stronach mischt die Alpenrepublik auf, während FPÖ-Mann Strache gern den coolen Rapper gibt. Da kann die Grüne Eva Glaschwinig mit Kompetenz punkten.

Die ÖVP hat sogar die Titelseite des Massenblattes Österreich gekauft. Die ohnehin meist genervten Wähler dürfen sich erst recht bombardiert fühlen von der Politik - was noch lange nicht bedeutet, dass sie von Ausländern daran erinnert werden wollen. Schon gar nicht von den Deutschen, den Piefkes. Oft wird dann auf die Bundestagswahl und den kitzligen Machtpoker in Berlin angespielt, auf Parteien, die nicht koalieren wollen, aber irgendwie müssten.

"Ihr habt's doch die gleichen Probleme", sagt auch die blonde Frau, die am Sonntagmorgen in der U-Bahn sitzt und die offensichtlich auch unzufrieden ist mit der Politik in ihrer Heimat. Die gleichen Probleme? Aber in Deutschland gebe es keine rechtsradikale Partei, die mit mehr als 20 Prozent im Parlament sitzt.

Da ist die Frau so angfressn, als ob man sie auf das Fußball-Länderspiel-Statistik zwischen Deutschland und Österreich angesprochen hätte: "Halten Sie sich da raus", zischt sie. "Bitte kehren's vor der eigenen Haustüre".

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