Reportage:"Die haben mir meine Zukunft geklaut"

Martin ist 25 und würde am liebsten jeden Alten schütteln, der für den Brexit gestimmt hat. Jon, 76, hält dagegen: Der Brexit bedeutet Zukunft für die Jungen.

Von Thorsten Denkler, London

Eine Bank im Lincolns Inn Field, einem kleinen Park in Covent Garden, London. John Ogion sitzt hier. Er genießt seine Mittagspause. Ein IT-Techniker, 47 Jahre alt. Er kann es noch nicht fassen. Es ist der Tag danach. Der Tag, nachdem die Briten mit Mehrheit gegen die EU gestimmt haben. Und für ein diffuses Versprechen von Unabhängigkeit.

"Das ist unser Unabhängigkeitstag", feiert am Morgen noch Nigel Farage, der Chef der EU-feindlichen Ukip. Danach kündigt Premierminister David Cameron seinen Rücktritt an. Das Pfund bricht ein. Die Börsen spielen verrückt. Großbritannien sendet Stoßwellen in die ganze Welt, heißt es im Evening Standard vom Freitag, der Londoner Abendzeitung.

Reportage: John Ogion sucht nach Erklärungen, warum kaum einer in London mit einem Brexit gerechnet hat.

John Ogion sucht nach Erklärungen, warum kaum einer in London mit einem Brexit gerechnet hat.

(Foto: Thorsten Denkler)

Unwirklich wirkt da der Frieden in diesem kleinen Park, kaum so groß wie ein Fußballfeld. Das satte Grün der Buchen, Ahornbäume, der dicken Pappeln. Die Sonne, deren Strahlen sich hin und wieder einen Weg durch die Wolkendecke bahnen. Die angenehme Kühle, die sich nach der drückenden Schwüle der vergangenen Tage wohltuend über die Stadt gelegt hat.

Wären alle Remainer wählen gegangen, hätte es noch anders kommen können

John ist ratlos. Er hat das nicht erwartet. Schon gar nicht so deutlich. "Vielleicht hat uns in London das Gefühl dafür gefehlt, wie die Leute draußen im Land ticken", sagt er. Viele hier hatten es für selbstverständlich gehalten, dass die Leave-Seite verliert, was denn sonst. "Und manche sind dann eben nicht wählen gegangen."

Ein Fehler, denken sie jetzt. London hätte es richten müssen. Mit seinen 60 bis 70 Prozent für Remain, für den Verbleib in der EU. Knapp eine Million Stimmen liegt am Ende die Brexit-Seite landesweit vorne. Wären alle Remainer in London wählen gegangen, und hätten in Schottland noch ein paar Leute mehr für Remain gestimmt, es hätte noch anders kommen können.

"Hätte, hätte Fahrradkette", hat einmal ein sozialdemokratischer Kanzlerkandidat gesagt. Hier in London ist dieses Gefühl greifbar geworden.

"Vielleicht gibt es ja noch einen Weg", meint John, "theoretisch zumindest." Das Parlament sei ja nicht an das Referendum gebunden. Zumindest rechtlich nicht. Er denkt einen Moment darüber nach. Nein, das klappt wohl nicht. Zu deutlich ist die Niederlage der Remain-Seite. Zwei Jahre noch, dann ist Großbritannien raus aus der EU.

"Diese wackelpuddingessenden Nichtstuer"

Martin Hayden läuft auf der Bethnal Green Road entlang. Knapp zwei Kilometer östlich der Parkbank von John Ogion. Eine Gegend, in der der Cultural Mix, der Mix der Kulturen, täglich gelebte Realität ist.

Reportage: Martin Hayden ist sauer auf die Alten, die für den Brexit gestimmt haben.Richtig sauer.

Martin Hayden ist sauer auf die Alten, die für den Brexit gestimmt haben.Richtig sauer.

(Foto: Thorsten Denkler)

Eine verschleierte Frau schnäuzt sich die Nase. Sie muss dafür das Kunststück vollbringen, das Taschentuch unter den Schleier zu schieben, ohne das irgendetwas verrutscht.

Martin holt erstmal Luft. Dann entfährt es ihm: "Wie kann man nur", setzt er an. "Wie kann man nur Einigkeit ablehnen?", fragt er. Und sein Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass er darauf wirklich keine Antwort weiß. Vollkommenes Unverständnis. Er ist 25.

Die Alten haben Leave gewählt. Vor allem die Alten. Martin Hayden nimmt ihnen das persönlich übel. "Diese wackelpuddingessenden Nichtstuer", sagt er. "Die haben mir gestern meine Zukunft geklaut." Die sollten sich doch mal umschauen in den Clubs, auf Konzerten, da, wo junge Leute sind. Alle möglichen Kulturen und Hintergründe und Nationen kämen da zusammen. Das sei die Realität der jungen Generation. "Wir sind Europäer!", sagt Martin. Und jetzt werde ihnen genommen, was sie für völlig selbstverständlich gehalten haben.

"Wir haben den Jungen eine Zukunft gegeben!"

Jon ist einer von diesen Alten. Er will nicht sagen, wofür er gestimmt hat. Er will auch seinen Nachnamen nicht nennen. Nur sein Alter: 76. Schiebermütze, dunkle Sonnenbrille, olivgrüne Weste über dem breitgestreiften Hemd. "Den Jungen was gestohlen?", fragt er. "No, no, no. Wir haben ihnen eine Zukunft gegeben!"

Dann kommen all die Argumente der Brexit-Befürworter: Dass die Briten stark genug seien, um gut und noch besser allein über die Runden zu kommen. Dass sie wieder Kontrolle haben werden über die Grenzen, über ihr Geld. Dass keine Migranten mehr kommen, wenn Großbritannien erstmal raus ist aus der EU.

Die werden noch dankbar sein, die Jungen, meint Jon. Er würde gerne noch weiterreden, seine Frau legt ihm sanft eine Hand auf den Arm. Ist gut jetzt. Sie hat ein paar Mal ganz leicht den Kopf geschüttelt, als ihr Mann so dahergeredet hat. Wofür er gestimmt hat, ist nicht mehr schwer zu erraten. Wofür sie gestimmt hat, auch nicht.

Reportage: Sophie Cochevelou fand den Gedanken vor ein paar Tagen noch witzig, wegen des Brexit ihren Freund heiraten zu müssen. Jetzt lacht sie nicht mehr.

Sophie Cochevelou fand den Gedanken vor ein paar Tagen noch witzig, wegen des Brexit ihren Freund heiraten zu müssen. Jetzt lacht sie nicht mehr.

(Foto: Thorsten Denkler)

"Es reicht nicht, wenn Protest nur als Meme daherkommt"

Drei Blocks weiter steigt Sophie Cochevelou vom Rad. Eine Französin, 26 Jahre alt. Seit fünf Jahren lebt sie London. Sie hat Kostüm-Design in London studiert und arbeitet jetzt frei in ihrem Beruf. "Ich bin geschockt", sagt sie. "Wirklich geschockt." Mit ihrem Londoner Freund hat sie vor ein paar Tagen noch gewitzelt, dass sie dann wohl heiraten müssten, wenn es zum Brexit kommt. Sie haben beide gelacht darüber. Heiraten. Wegen eines Brexit. Soweit kommt´s noch. "Und jetzt stehe ich hier und muss ernsthaft darüber nachdenken." Alle in ihrem Freundeskreis haben für Remain gestimmt. Alle, die sie auf Facebook kennt. Einfach alle. Und dann das.

Martin Hayden erging es ähnlich. Er berichtet, wie viel Protest es gegen einen Brexit gegeben habe. Im Internet vor allem. In den sozialen Netzwerken, auf Twitter und Facebook. "Aber das reicht nicht, wenn Protest nur als Meme daherkommt", sagt Martin.

Die Alten jedenfalls, die sind damit nicht zu erreichen. Aber genau die haben am Ende das Referendum entschieden. Gegen die Jungen. Nur ist es jetzt zu spät, daran noch etwas zu ändern.

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