Merkels Regierungserklärung:Schlachtruf vor dem Finale

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  • Die Bundeskanzlerin erklärt die Asylpolitik kurz vor dem EU-Gipfel zur Schicksalsfrage Europas. Merkel sucht an diesem Donnerstag in Brüssel nach einem Ausweg aus dem Asylstreit mit der CSU.
  • Bei der Regierungserklärung im Bundestag streitet sie für ihre Sicht auf die Ereignisse der vergangenen drei Jahre. Und versucht dabei, den Eindruck zu widerlegen, es sei nichts geschehen und nichts erreicht worden.
  • Merkel muss aber einräumen, dass das vielleicht noch nicht in den kommenden zwei Tagen gelingen dürfte. "Wir sind, das will ich wirklich ganz offen sagen, noch nicht da, wo wir sein sollten."

Von Stefan Braun, Berlin

Heute also trägt die Kanzlerin Giftgrün. Das passt schon zur Lage. Als Angela Merkel zu ihrer vielleicht letzten Regierungserklärung vor der ganz großen Krise auftritt, beginnt sie nicht mit Freundlichkeiten. Sie spricht über eine geänderte Sicherheitslage, über Truppenaufstellungen und neue Kommandostrukturen, es geht um die eigene Verteidigungsbereitschaft, zwei neue Hauptquartiere und um den festen Willen, sich veränderten Situationen entschlossen anzupassen.

Passende Vokabeln sind das, ganz besonders für die Lage der Kanzlerin in diesen Tagen. Und man ist kurz geneigt, all diese Begriffe auf den aktuell überragenden Konflikt mit der CSU anzuwenden. Passt schon in einer Situation, in der alle vom Streit und manche schon vom Krieg reden, in der engste Bündnisse in Gefahr sind und die andere Seite mit Ultimaten agiert.

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Die CDU-Chefin steckt in einer bizarren Koalitionskrise. Beim EU-Gipfel sucht sie heute einen Ausweg, vorher stellte Merkel ihre Pläne im Bundestag vor. Vor allem die CSU wurde anschließend heftig kritisiert. Die Debatte zum Nachlesen im SZ-Liveblog.

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Und doch: In den ersten fünf Minuten spricht Angela Merkel nicht über Flüchtlinge, nicht über Horst Seehofer und den Streit der Unionsparteien. Sie redet über die Nato und die komplizierte Weltlage. Und weil sie dabei anfänglich leise, fast müde und furchtbar nüchtern klingt, wird man den Verdacht nicht los, dass auch die Kanzlerin noch etwas betrübt und benommen ist von der deutschen Niederlage in Russland.

Nach ein paar Minuten allerdings zeigt sich, dass Merkel sich schlicht und einfach warmreden musste. Denn nachdem sie - als Vorbereitung auf den Europäischen Rat - über Innovationen und Digitalisierung, Konvergenz und Stabilität, dazu über einen Europäischen Währungsfonds und ihr Nein zu einer Schuldenunion gesprochen hat, kommt sie zum Streitthema dieser Tage: den Flüchtlingen, der Krise und ihrem Festhalten an einer europäischen Lösung.

Und obwohl ihr FDP-Chef Christian Lindner später vorwerfen wird, sie argumentiere wieder einmal nur mit technischen Formulierungen, tut sie genau das nicht. Sie streitet für ihre Sicht auf die Ereignisse der vergangenen drei Jahre. Und versucht dabei, den Eindruck zu widerlegen, es sei nichts geschehen und nichts erreicht worden.

In fünf von sieben Bereichen habe sich die EU schon verständigt, dazu gebe es höchste Einigkeit bei der Frage, dass man die Außengrenzen viel besser und entschlossener schützen und das Handeln der Schlepper bekämpfen müsse. Niemand, so die Kanzlerin, könne behaupten, es sei nichts erreicht worden. "Das stimmt so nicht", sagt Merkel. "Auf der Ägäis sind die Flüchtlingszahlen um 97 Prozent gesunken, auf der Mittelmeerroute um 77 Prozent zurückgegangen."

Dieser Trend zeige sich im Übrigen längst auch in Deutschland. Auch hier sei die Zahl deutlich gesenkt worden. Angesichts dessen könne nun wirklich nicht davon gesprochen werden, dass die Lage immer noch die gleiche sei wie 2015.

Als Gründe nennt sie vor allem das Abkommen mit der Türkei - und die Leistungen der Türken, die mehr als drei Millionen Flüchtlinge beherbergen würden. Dieses Lob nutzt sie überdies, um zu betonen, dass ähnliche Abkommen auch mit anderen Ländern dringend nötig seien und deshalb mit Vehemenz angestrebt werden müssten. "Hier herrscht absolute Einigkeit", sagt die Kanzlerin - und weiß genau, dass ihr das kaum jemand abnehmen wird, wenn es beim Brüsseler Gipfel in den nächsten 48 Stunden nicht deutlich zutage treten wird.

Trotzdem verteidigt sie noch einmal mit Verve die Beschlüsse aus dem Jahr 2015. Sie erinnert daran, dass die Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn keine einsame oder gar national egoistische Entscheidung gewesen sei, sondern eine solidarische, gerade gegenüber dem Nachbarn Österreich. Und sie betont, dass auch mit allen anderen Entscheidungen - anders als behauptet - kein Gesetz verletzt oder gar bewusst gebrochen wurde.

"Wir sind noch nicht da, wo wir sein sollten"

Wer sie reden hört - und dabei sieht, dass die CSU-Abgeordneten für sie keine Hand zum Applaus heben - wird den Verdacht nicht los, dass diese Art der Verteidigung schlicht zu spät kommen könnte. Zumal sie zwar der These widerspricht, dass man in der EU nichts erreichen könne, aber einräumen muss, dass das vielleicht noch nicht in den kommenden zwei Tagen gelingen dürfte. "Wir sind, das will ich wirklich ganz offen sagen, noch nicht da, wo wir sein sollten."

Das passt natürlich auch auf den Konflikt mit der CSU und dem Bundesinnenminister. Horst Seehofer, der am Abend lange im Fernsehen war, aber an diesem Morgen nicht auf der Regierungsbank sitzt, verpasst dabei, dass Merkel noch einmal vehement für seine Ankerzentren plädiert und ihm auch sonst jedes Recht zuspricht, auf dramatische Ereignisse wie die Ermordung der jungen Susanna F. mit neuen Vorschlägen zu reagieren.

Ja, Merkel betont sogar, dass die sogenannte Sekundärmigration, also das Wandern der Flüchtlinge zwischen den einzelnen EU-Staaten, dringend unterbunden werden müsse. Allein an einer Überzeugung hält sie fest: Man müsse das mit den Partnern beschließen, nicht alleine erzwingen.

Merkel kämpft an diesem Tag, der Ausgang ist offen. Wie sagt sie es gleich zu Beginn? "Es ist kein Geheimnis, dass das Bündnis Spannungen ausgesetzt ist. Wir sind aber überzeugt, dass es für uns zentral wichtig ist und sein wird." Gemünzt ist das auf die Beziehung zu den Vereinigten Staaten; gleichwohl passt es auch auf die andere Beziehung, die derzeit in Frage gestellt wird.

In welcher Atmosphäre dieser Donnerstag vor dem EU-Gipfel stattfindet, zeigt sich noch stärker bei den ihr folgenden Rednern. Und zwar bei jedem auf seine ganz eigene Weise.

Den Anfang macht AfD-Chef Alexander Gauland. Er hält den Multilateralismus nur noch für eine "schöne Sehnsucht" und Merkels Bemühungen für eine naive Anstrengung. Vor allem aber macht er deutlich, wie sehr er sie verachtet. Er spricht nur noch über Realpolitik, Staatsräson und nationale Interessen. Das, so Gauland, sei in Europa und gegenüber den EU-Partnern im Übrigen auch nicht anders. Es gehe nicht mehr um gemeinsame Wertevorstellungen, sondern um Interessenbündnisse. Noch nie hat im Bundestag ein Abgeordneter die EU derart beerdigt.

Das genaue Gegenteil liefert Andrea Nahles, die SPD-Vorsitzende. Sie will den nationalen Alleingängern vom Schlage Gauland "nicht klein beigeben", sondern zum großen europäischen Wurf ausholen. Nur gemeinsam könne der Kontinent in der neuen krisenhaften Welt bestehen, nur gemeinsam sei man in der Lage, riesige Zukunftsfragen wie die Digitalisierung erfolgreich anzugehen. Dass das alles zurzeit kein Spiel mehr ist und keine akzeptable Auseinandersetzung innerhalb der Regierung, macht Nahles im Schlusssatz deutlich. "Werden Sie endlich Ihrer nationalen und internationalen Verantwortung gerecht - bevor es zu spät ist."

Und obwohl die SPD-Vorsitzende und der FDP-Chef so wahnsinnig viel nicht gemeinsam haben - an der Stelle sprechen sie die gleiche Sprache. Lindner erinnert daran, wie krisenhaft die Welt derzeit und wie absurd der Berliner Streit angesichts dessen aussieht. "In dieser Lage wäre eine stabile Regierung ein Wert an sich", sagt der Liberale - und jeder im Plenarsaal weiß, dass er recht hat.

Finger in der Wunde

Lindner legt den Finger in die Wunde. Er erinnert daran, wie groß die Wirkung der Flüchtlingspolitik und des Streits darum sein kann. "Sie kann Gesellschaften sprengen, sie kann Regierungen sprengen, sie kann Parteien sprengen." Aber an diesem Morgen spielt er nicht wie manchmal in den vergangenen Wochen mit ein bisschen Stimmung hier oder dort, sondern bekennt sich ungefähr so deutlich zu Europa, wie Gauland ebendieses inzwischen ablehnt.

Ja, er sei für eine europäische Lösung. Die FDP kämpfe für ein Europa ohne Binnengrenzen und ohne Schlagbäume. Das bedeute nicht, dass man manchmal "nötigenfalls" auch mit nationalen Schritten EU-Entscheidungen befördern müsse. Richtig aber wäre es, als geschlossen agierende Regierung "eine europäische Lösung anzubieten" und im Fall eines Scheiterns anderes nicht auszuschließen.

Die CSU aber habe das Gegenteil getan und Merkel mit Drohungen und Ultimaten erpressbar gemacht. Ja, Markus Söder habe gar schon vom Ende des geordneten Multilateralismus fabuliert. "Ich kann die CSU nur davon warnen, so weiterzumachen."

Normale Zeiten? Normale Debatten? Davon kann in diesen Tagen Ende Juni 2018 keine Rede mehr sein.

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