Hinrichtung der Geschwister Scholl:Was der Widerstand der Weißen Rose für die Gegenwart bedeutet

b a Friedhöfe München FRIEDHOF AM PERLACHER FORST Grab Geschwister Scholl Foto Michael Westermann

Das Grab von Hans und Sophie Scholl auf dem Münchner Friedhof am Perlacher Forst. Die Geschwister wurden nach einer Flugblattaktion gegen die Herrschaft des NS-Regimes verhaftet und hingerichtet.

(Foto: imago/Michael Westermann)

Vor 75 Jahren wurden die Geschwister Scholl und einer ihrer Mitstreiter vom NS-Regime hingerichtet. Ihr Vermächtnis ist der Aufruf zum Widerstand auch im Kleinen, zu Zivilcourage und Whistleblowerei.

Kommentar von Heribert Prantl

Der Weg Deutschlands zum Grundgesetz führt durch die Abgründe der Geschichte. Er führt vorbei an den Stätten des NS-Terrors, er führt vorbei an den Konzentrationslagern, er führt vorbei auch an Orten, denen man das Unrecht heute nicht mehr ansieht. Zu diesen Orten gehört der Münchner Justizpalast.

Dort eröffnete an diesem Donnerstag vor 75 Jahren Roland Freisler, der Präsident des sogenannten Volksgerichtshofs, den kurzen Prozess gegen Sophie Scholl, Hans Scholl und Christoph Probst. Freisler tobte, er brüllte, er schrie die Angeklagten nieder. Sodann verurteilte er sie zum Tod durch das Fallbeil. Wenige Stunden später wurde sein Urteil im Gefängnis von München-Stadelheim vollstreckt; weitere Todesurteile gegen Mitglieder der Weißen Rose folgten.

Dieser Tag ist ein Tag des Innehaltens und Gedenkens; er ist ein Tag des Nachdenkens darüber, was der Widerstand der Weißen Rose für Vergangenheit und Gegenwart bedeutet. Dieser Widerstand ist nicht einfach nur Geschichte. Die Geschwister Scholl wurden umgebracht, weil sie in ihren Flugblättern gegen die Hitler-Barbarei protestiert haben.

Wer vom Mut der Widerständler gegen Hitler spricht, vom Mut der Weißen Rose, vom Mut des Georg Elser, vom Mut der Verschwörer des 20. Juli 1944 - der tut sich allerdings schwer, dieses Wort in einer Gegenwart zu gebrauchen, in der Mut wenig kostet. Ist der Mut von damals nicht umso mehr Vorbild und Verpflichtung? "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt", lautet einer der Sätze aus den Flugblättern der Weißen Rose. Ist dieser Satz nicht auch Anklage in einer Zeit, in der die Gleichgültigkeit globalisiert ist und in der Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer sterben?

Im Grundgesetz stehen zwei Artikel, die ein Vermächtnis des Widerstands gegen Hitler sind. Da ist der Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Und da ist der Artikel 20 Absatz 4; er ist eine Verbeugung vor den Widerständlern gegen Hitler, er ist Mahnung und Appell: Gegen jeden, der es unternimmt, die Grundrechte zu beseitigen, so steht es da, "haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist".

Das Vermächtnis der Weißen Rose

Das ist nicht pathetisches Larifari, wie manche Juristen meinen, das ist ein Symbol für den Rang der Grundrechte; darin steckt aber auch der Aufruf, nicht so lange zu warten, bis "andere Abhilfe nicht mehr möglich ist". Es ist dies die verfassungsrechtliche Weisung, den Mantel der Gleichgültigkeit abzuwerfen; es ist der Aufruf zum "kleinen Widerstand".

Kleiner Widerstand: So hat das der 2001 verstorbene Münchner Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann genannt. Der kleine Widerstand sei die bewegende Kraft, deren das Recht und der Rechtsstaat zu ihrer fortwährenden Erneuerung und damit zur Verhinderung ihrer Entartung bedürfen. Gemeint sind Widerspruch und Zivilcourage, gemeint ist Whistleblowerei, gemeint ist das, was oft als Gutmenschentum denunziert wird. Der kleine Widerstand hat die Namen all derer, die Missstände nennen und gegen Unrecht nicht nur im Eigeninteresse anrennen - sei es in Pflege- oder in Flüchtlingsheimen.

Wenn die Würde des Menschen im Konjunktiv steht, wenn der Rassismus wieder auflebt, wenn die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen von AfD-Politikern als "Erinnerungs-Diktatur" beschimpft wird, wenn Deutsche mit ausländischen Wurzeln in politischen Reden verhöhnt und ausgeschafft werden - dann ist der kleine Widerstand, dann ist der Aufstand der Enkel und Erben der Weißen Rose aufgerufen. Der kleine Widerstand ist wichtig, weil es nie mehr dazu kommen darf, dass es den großen Widerstand braucht. Der kleine Widerstand gehört daher zur wehrhaften Demokratie.

Ein AfD-Kreisverband hat vor einiger Zeit behauptet, "Sophie Scholl würde AfD wählen". Sie würde es nicht tun; sie würde einer AfD, die im Inneren immer radikaler wird, sagen: "Wir sind euer böses Gewissen."

In braunen Netzwerken wird so getan, als seien die demokratischen Parteien, Alt-Parteien werden sie dort genannt, eine zu stürzende, volksverräterische Herrscherclique. So wird der Widerstandsbegriff pervertiert; er wird von den Grund- und Menschenrechten getrennt, für die die Geschwister Scholl gekämpft haben; er wird angefüllt mit völkischem Gebräu und populistischem Extremismus. Es ist dies eine Verhöhnung des Andenkens an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Es bedarf des kleinen Widerstands.

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