Fall Linda W.:Vom Kinderzimmer in Pulsnitz nach Mossul in den Dschihad

Kampf um Mossul

Sie haben den IS überlebt, immerhin: Zivilistinnen in Mossul nach der Befreiung, im Gespräch mit einem irakischen Soldaten.

(Foto: Khalil Dawood/Action Press)
  • Die 16-jährige Linda W. aus Pulsnitz bei Dresden ist in den Irak gereist, um den IS zu unterstützen.
  • Sie heiratete einen IS-Kämpfer, wurde verwundet und festgenommen. Jetzt will sie zurück nach Deutschland.
  • Linda W. war eine gute Schülerin und radikalisierte sich im Stillen. Im Irak drohen ihr mehrere Jahre Haft, auch in Deutschland steht sie im Visier der Strafverfolger.

Von Volkmar Kabisch, Georg Mascolo und Amir Musawy

Es sind 46 Grad hier im Süden Bagdads, vor einer Kaserne der Goldenen Brigade ducken sich schwer bewaffnete Soldaten in den Schatten. Sie bewachen drei Checkpoints, die man passieren muss, bis man endlich vor den Baracken der irakischen Eliteeinheit für die Terrorismusbekämpfung steht.

Die Goldene Brigade, eine von den Amerikanern ausgebildete Einheit, hat in vorderster Front in Mossul gekämpft, der nun weitgehend vom IS befreiten Stadt. Sie hat viele Tote und Verletzte zu beklagen, aber sie hat auch viele Gefangene gemacht. Nun soll ein Besuch bei einer besonderen Gruppe von Festgenommenen möglich sein - Frauen, die im Westen von Mossul entdeckt worden waren.

Unter ihnen, so berichten es seit Tagen Medien in aller Welt, seien auch einige Deutsche, darunter die aus Sachsen stammende 16-jährige Linda W. Ein Foto von ihr, Trümmerstaub im Haar, inmitten irakischer Soldaten, ging um die Welt. Berlin hat inzwischen eine offizielle Bestätigung dafür, dass sich Linda W. und bis zu vier andere Deutsche in den Händen der irakischen Armee befinden.

Linda W. will zurück nach Deutschland

Sie sind hier, zwei jedenfalls befinden sich in der Kaserne. Sie sitzen auf Metallstühlen in einer Krankenstation, dort wo sonst die neuen Rekruten der Goldenen Brigade auf ihre Tauglichkeit untersucht werden. Ihre Gesichter sind auffallend bleich, so wie die Arme, die Vollverschleierung im Kalifat verhindert jede Bräune. Eine irakische Soldatin wacht über sie, drei amerikanische Sanitäter und ein US-Soldat sind bei ihnen.

Linda W. trägt ein beiges Kopftuch und einen bunten Umhang, die Beine stecken in einer langen Unterhose. Sie habe genug von Krieg, sagt sie, von all den Waffen, von all dem Leid. Sie wolle zurück nach Deutschland. Sie habe sich in einem Keller versteckt, erzählt sie, nahe des Tigris, der die Stadt durchfließt. In dem Keller sei sie die einzige Deutsche gewesen. Man habe sie bei der Festnahme erst für eine Jesidin gehalten, berichtet sie. Viele IS-Kämpfer hielten sich Frauen dieser kurdischen Minderheit als Sklavinnen. Sie war genervt. "Ich bin Deutsche", sagte sie den Soldaten. Dann musste sie das Kopftuch abnehmen und sich fotografieren lassen.

Linda W. ist leicht verwundet, eine Schussverletzung am linken Oberschenkel, und auch das rechte Knie muss versorgt werden. Vermutlich traf sie der Splitter einer von einem Hubschrauber abgefeuerten Rakete. Eigentlich sollte sie in ein Krankenhaus in Bagdad gebracht werden, aber dann hieß es, dort könne man nicht für ihre Sicherheit garantieren. In dem Krankenhaus werden viele Opfer des IS behandelt. So kam sie auf den Stützpunkt der Goldenen Brigade.

Eine Tschetschenin küsst weinend das Handy-Display mit Fotos von ihren Kindern

Neben Linda W. sitzt Fatima M., eine gebürtige Tschetschenin, mit 15 kam sie nach Österreich, heiratete einen Deutschen und zog zu ihm nach Baden-Württemberg. Ihr Mann, Magomed A., ist im Kampf für das Kalifat des Irrsinns gestorben. An ihrem Arm klafft eine Wunde, der amerikanische Sanitäter sagt, man wolle den Arm retten. Fatima M. weint, ihre beiden Kinder, so erzählt sie, würden seit einem Luftangriff vermisst. Als der Reporter von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung ihr ältere Fotos der Kinder, die er von der Familie in Deutschland erhalten hatte, auf seinem Handy zeigt, will sie das Mobiltelefon gar nicht mehr hergeben. Sie küsst weinend das Display.

Der Bundesnachrichtendienst bemüht sich in Absprache mit dem Auswärtigen Amt darum, die Frauen nach Hause zu holen. Die irakischen Geheimdienste haben bereits vor Tagen die Liste mit den Personalien der Festgenommenen übermittelt. Der zuständige Richter sagt, sie seien noch nicht vernommen worden, erst einmal ordnete er die medizinische Behandlung an. Bei dem Gespräch zwischen dem Reporter und ihm ist auch der zuständige Staatsanwalt mit im Raum. Es hat eine lange Diskussion gegeben, ob der Besuch hier möglich ist, die Gefangenen sind ein Politikum; es sind ja nicht nur Deutsche, mindestens eine Französin ist dabei, zwei Marokkanerinnen und auch einige Kinder sind zu sehen.

Vielleicht sind es auch noch viel mehr, die Türen zu den angrenzenden Zimmern der Krankenstation bleiben verschlossen. Ein Soldat sagt auf dem Flur: "Erst töten sie uns, und jetzt kaufen wir ihren Kindern die Pampers." In Mossul gab es zuletzt viele Selbstmordattentäterinnen. Manche näherten sich den Soldaten mit einem Kind auf dem Arm und zündeten dann die Sprengstoffweste.

Frauen und Kinder der geschlagenen IS-Kämpfer ergeben sich

In der Ferne sieht man gefesselte IS-Kämpfer, manche sollen bereits zum Tode verurteilt worden sein. In Mossul, so berichten es Offiziere der Goldenen Brigade, tauchen jetzt mehr und mehr Frauen und Kinder der geschlagenen IS-Kämpfer auf, manche ergeben sich, andere werden in Stollen und Kellern entdeckt. Die Männer suchen den Kampf und den Tod. Die meisten Frauen aber versuchen mit ihren Kindern zu überleben.

Der Richter stimmt dem Treffen des Reporters zu, weil der auch für das irakische Fernsehen (Iraqia TV) arbeitet. Den Ausschlag aber gibt, dass die Journalisten seit einiger Zeit mit der Familie von Linda W. in Verbindung stehen - so wie mit vielen anderen Familien, die ihre Töchter und Söhne auch suchen.

Eine gute Schülerin, im Stillen radikalisiert

In Pulsnitz bei Dresden wartet Lindas 29 Jahre alte Schwester Miriam auf einen Anruf, sie bittet die Reporter, die Verbindung herzustellen. Die letzte Nachricht kam Ende Januar aus Mossul. Wie so viele Mädchen in Deutschland und anderswo hatte sich Linda W., gute Schülerin, Notendurchschnitt 2,1, Drittbeste ihrer Klasse mit einer Vorliebe für Mathe, Chemie und Physik, im Stillen radikalisiert. Statt Rap hörte sie plötzlich arabische Musik, schließlich trug sie ein Kopftuch.

Am 1. Juli 2016 verabschiedete sie sich von der Familie mit einer Lüge: Sie schlafe bei einer Freundin, "ich bin am Sonntag um 16 Uhr wieder da". Stattdessen fälschte sie eine Bankvollmacht und kaufte ein Ticket nach Istanbul. Linda W. verschwand - wie so viele andere junge Mädchen auch. Der IS warb Mädchen wie Linda W. gezielt über das Internet an, Halbwüchsige, die der schlichten Logik erlagen, in Syrien und dem Irak entstehe ein wahrer islamischer Staat, den es nun zu unterstützen gelte. Wenn nicht mit Waffen, dann um als Braut eines Dschihadisten die nächste Generation des Kalifats zu gebären.

Im Internet wird für das Leben im Kalifat geworben. In geschlossenen Chatgruppen wird vom Kampf der "Löwen des Dschihad" gegen den Bombenhagel der Ungläubigen schwadroniert. Dann geht es um leckere Rezepte im Kalifat. Frauen berichten, wie sie ihre Männer in deren Kampf als treu ergebene Ehefrauen unterstützten. Dschihad rosarot. Auch Linda W. hatte sich in den Bann ziehen lassen. Jetzt, da sie in Bagdad in Haft sitzt, macht sie den Eindruck, als habe sie verstanden, in welche Situation sie sich gebracht hat.

Der 16-Jährigen drohen mehrere Jahre Haft

Während über das Telefonat mit der Schwester verhandelt wird, beginnt Linda W. ihre Geschichte zu erzählen. Sie habe damals einen Monat gebraucht, in den Irak zu kommen, eigentlich habe sie gar nicht nach Mossul gewollt, sie sei dorthin "verfrachtet" worden. Ihr Mann, ein IS-Kämpfer, sei schon kurz nach ihrer Ankunft getötet worden. Sie sei bereit auszusagen. Der Staatsanwalt sagt: "Schon für den illegalen Grenzübertritt sieht unser Jugendstrafrecht bis zu dreieinhalb Jahre Haft vor."

Linda W. sitzt ganz still auf ihrem Stuhl, in einem Bett am Rand des Zimmers liegt eine weitere Tschetschenin, sie ist am Rücken verletzt. Man will Linda W. so viel fragen: Stimmen die über Twitter verbreiteten Gerüchte, dass sie mit einem Scharfschützen-Gewehr bewaffnet war? War sie eine Kämpferin des IS? Was weiß sie über das Schicksal der vielen anderen Deutschen, die in Mossul lebten? Die Franzosen haben eigens Spezialkräfte nach Mossul geschickt, die herausfinden sollen, welche ihrer Staatsbürger bei den Kämpfen in der Stadt getötet wurden. Sie fotografieren Leichen und nehmen DNA-Proben. Wer tot ist, von dem droht keine Gefahr mehr.

"Das kriegen wir schon hin. Hauptsache, sie lebt"

Dann öffnet sich die Tür und ein Offizier der Goldenen Brigade tritt ein. Heute werde es kein Telefonat mit der Schwester mehr geben. Und jetzt sei die Besuchszeit abgelaufen. Vielleicht könne man Linda W. an einem anderen Tag noch einmal besuchen. Aber dazu kommt es ohne Angabe von Gründen nicht.

Miriam, die Schwester, weiß schon seit den ersten Fotos bei Twitter, dass Linda Linda ist. Nun sitzt sie zu Hause in Sachsen und versteckt sich vor den vielen Reportern, die draußen vor der Tür stehen. "Ich freue mich, dass sie lebt", sagt sie zu NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Andere betroffene Familien hätten nicht solches Glück. Nun hoffe sie, sagt Miriam, ihre kleine Schwester bald wieder in Deutschland zu haben, auch wenn es hier Ermittlungen gibt wegen des Vorwurfes, Linda W. habe eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet. "Das steht für mich jetzt nicht an erster Stelle. Hauptsache sie lebt."

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