Entführte Jugendliche in Israel:Der überhörte Notruf

Combination photo of three Israeli teenagers abducted in the occupied West Bank

Um sie bangt derzeit Israel: Naftali Frenkel, Gilad Schaer und Eyal Yifrah (von links nach rechts).

(Foto: REUTERS)

Nach der Entführung von drei Jugendlichen in Israel wird Kritik an der Rolle der Sicherheitskräfte laut: Einer der Jungen konnte die Polizei informieren, doch niemand glaubte ihm. Seitdem wird in Israel gebangt - und im Palästinensergebiet mit eiserner Faust gesucht.

Von Peter Münch

Umzingelt von Mikrofonen ringt eine Frau um Fassung, und ihre Worte sind direkt an den vermissten Sohn gerichtet: "Naftali, dein Vater und deine Mutter lieben dich so sehr", sagt Rachel Frenkel, "und du sollst wissen, dass das israelische Volk die ganze Welt auf den Kopf stellt, um dich nach Hause zu bringen." Worte sind das, die eine ganze Nation zu Tränen rühren können, und bei aller Emotionalität sind sie nicht einmal übertrieben.

Denn tatsächlich wird nichts unversucht gelassen, um den 16- jährigen Naftali Frenkel und die beiden anderen Jugendlichen zu finden, die am Donnerstag nahe einer Siedlung im Westjordanland verschwunden und allen Anzeichen nach entführt worden sind. Doch von Beginn an ist es ein Rennen gegen die Zeit und auch ein Kampf gegen die eigenen Ängste. Denn die Chance, die drei Jugendlichen lebend zu finden, scheint nicht sonderlich hoch zu sein.

Kinder aller Israelis

Im ganzen Land wird seit Tagen gebetet und gebangt - und zur gleichen Zeit im Palästinenser-Gebiet mit eiserner Faust nach den Vermissten gesucht und nach den Tätern gefahndet. Tausende Soldaten sind im Einsatz, sogar Reservisten wurden einberufen. Es werden Häuser gestürmt und Straßensperren errichtet. Hebron, die größte Stadt im Westjordanland, ist fast komplett abgeriegelt. Nahe Ramallah wurde bei Protesten ein Palästinenser erschossen, der nicht viel älter war als die Entführten. Es ist diese Mischung aus bedingungsloser Empathie nach innen und bedingungsloser Härte nach außen, mit der die Nation stets den Bedrohungen begegnet.

Naftali Frenkel, sein gleichaltriger Freund Gilad Schaer und der 19-jährige Eyal Yifrah, die von ihren Eltern auf Religionsschulen in den jüdischen Siedlungen geschickt wurden, sind nun die Kinder aller Israelis. Die Politiker, die solch eine Stimmung immer zu nutzen wissen, pilgern in Scharen zu den verzagten Eltern. Premierminister Benjamin Netanjahu, der alle Fäden in der Hand halten muss und seine Kabinettssitzungen nun als oberster Feldherr im Tel Aviver Verteidigungsministerium abhält, hat seine Frau Sara zu den Hausbesuchen geschickt. "Wir alle beten dafür, dass eure Söhne schnell und sicher nach Hause zurückkehren", versicherte sie vor den Kameras.

Mittlerweile läuft eine internationale Kampagne

Tatsächlich haben sich an der Jerusalemer Klagemauer am Sonntagabend 25 000 Menschen zum Gebet für die Vermissten versammelt. "Wir beweisen unseren Feinden, dass das israelische Volk niemals zerbrechen wird", rief der aschkenasische Oberrabbiner David Lau der Menge zu. Mobilisiert werden nun alle gesellschaftlichen Kräfte, und unter dem Hashtag "Bring Back our Boys" läuft eine internationale Kampagne, die sich an den Aufruf zur Befreiung jener nigerianischen Schulmädchen anlehnt, die von der Terrorgruppe Boko Haram entführt worden sind.

All diese Signale der Solidarität verhindern jedoch nicht, dass auch immer mehr Kritik an der Rolle der Sicherheitskräfte laut wird. Denn inzwischen ist bekannt, dass es einem der Jugendlichen gelungen war, über sein Handy um halb elf am Donnerstagabend noch einen Notruf bei der Polizei abzusetzen. "Wir wurden entführt", flüsterte er zwei Mal ins Telefon - doch offenbar nahm ihn niemand ernst. Die Suche begann erst viele Stunden später. Wertvolle Zeit wurde so verloren, die von den Entführern womöglich genutzt werden konnte, um Spuren zu verwischen.

Netanjahu nutzt die Gelegenheit

Seit Freitag läuft die Suchaktion auf vollen Touren, und Generalstabschef Benny Gantz kündigte an, dass noch mit erheblichen Weiterungen zu rechnen sei. Das Ziel definierte er in militärisch knappen Worten: "Die Jugendlichen finden, sie nach Hause bringen, und die Hamas so hart wie möglich treffen." Die israelische Führung will keinerlei Zweifel daran lassen, dass die Islamisten-Truppe verantwortlich ist für die Entführung. Unter den 150 Palästinensern, die mittlerweile festgenommen wurden, findet sich fast die gesamte Führungsriege der Hamas im Westjordanland einschließlich des Parlamentspräsidenten Asis Dweik.

Netanjahu nutzt die Gelegenheit zu harten Schlägen gegen die palästinensischen Erzfeinde. Neben den Verhaftungen werden noch andere Strafmaßnahmen wie die zwangsweise Abschiebung von Hamas- Führern vom Westjordanland in den Gazastreifen, die gezielte Zerstörung ihrer Häuser sowie Sanktionen gegen Hamas-Häftlinge in israelischen Gefängnissen erwogen.

Konfrontation wird sich ausdehnen

Dabei hat sich die Hamas ausdrücklich nicht zu dieser Entführung bekannt, und Beweise für ihre Verwicklung oder Urheberschaft wurden bislang auch nicht gefunden. Allerdings gilt Hebron als Hamas-Hochburg, und eine Tat wie diese gilt gewissermaßen als ihre Spezialität, seitdem der israelische Soldat Gilad Schalit 2006 in den Gazastreifen verschleppt und fünf Jahre später gegen mehr als tausend Gefangene ausgetauscht worden war. Vor ein paar Monaten hat die Hamas einem Bericht der Zeitung Haaretz zufolge sogar ein 18-seitiges Handbüchlein mit hilfreichen und detaillierten Tipps für Entführer veröffentlicht.

Ein Wunder also ist es nicht, dass sie nun die harte Hand der Israelis im Westjordanland zu spüren bekommt. Erwartet wird allerdings, dass sich die Konfrontation früher oder später auch auf das wirkliche Machtzentrum der Hamas im Gazastreifen ausdehnt. In den vergangenen Tagen war es dort bereits zu vereinzeltem Schlagabtausch gekommen. Israels Luftwaffe hat daraufhin neue Batterien des Raketenabwehrsystems "Iron Dome" im Süden des Landes aufgestellt, und offenbar rechnet auch die Hamas mit einer Eskalation. Ein sicheres Anzeichen dafür zumindest ist, dass mehrere ihrer Führer Berichten zufolge bereits abgetaucht sind.

Zu befürchten also ist, dass diese Entführung nur ein Startschuss gewesen ist für eine weit größere Konfrontation - und dass dann noch sehr viel mehr Mütter Angst um ihre Söhne haben müssen.

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