DDR-Geschichte:"Andrej Holm ist auch ein Opfer des SED-Regimes"

Podiumsdiskussion zu 'Einmal Stasi - immer Stasi?

Andrej Holm bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Einmal Stasi - immer Stasi?" im Januar in Berlin.

(Foto: dpa)

Berlins Regierender Bürgermeister hat Staatssekretär Holm entlassen. Die Debatte um dessen Stasi-Vergangenheit zeigt, was bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte falsch läuft, meint Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.

Interview von Antonie Rietzschel, Berlin

Mit gerade mal zwölf Jahren wollte Ilko-Sascha Kowalczuk in der DDR Offizier der Nationalen Volksarmee werden. Als er seine Entscheidung später revidierte, wurde sein Leben in der DDR zur Hölle. Heute spielt der Historiker und Projektleiter der Stasi-Unterlagenbehörde eine wichtige Rolle in der Debatte um die DDR-Vergangenheit des Berliner Staatssekretärs Andrej Holm. Während einer Podiumsdiskussion warf er dem anwesenden Holm fragwürdige Erinnerungslücken vor.

SZ: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hat am Samstag die Entlassung von Staatssekretär Holm verfügt. Eine gute Entscheidung?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Entlassung von Staatssekretär Holm durch die Landesregierung war absehbar. Sonst wird die Skandalisierung dieses Falls nie aufhören. Für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte wäre es hingegen gut gewesen, er wäre im Amt geblieben. Wer mit Geschichte ehrlich umgehen will, muss anerkennen, dass sie voller Widersprüche steckt, sie verläuft fast nie so, wie es uns in den Kram passt. Das muss eine offene Gesellschaft aushalten, solange es nicht um Verbrechen geht. Und Holm ist kein Verbrecher. Er steht stellvertretend für die widersprüchlichen Biografien vieler, natürlich längst nicht aller, Ostdeutscher.

Die Debatte um Holms Stasi-Vergangenheit hat Berlin gespalten. Welche Seiten stehen sich gegenüber?

Das Pro-Holm-Lager ist der Meinung, Holms Biografie bis 1989 dürfe keine Rolle mehr spielen, weil das alles viel zu lange zurückliegt. Ihrer Meinung nach sollte dessen Wohnungspolitik im Mittelpunkt stehen. Auf der anderen Seite befinden sich mehrere Gruppen, politische Gegner aber auch diejenigen, die davon überzeugt sind: Einmal Stasi immer Stasi. Das eigentliche Problem in diesem Fall besteht aber darin, wie Holm mit seiner Vergangenheit umgegangen ist. Nämlich nicht besonders clever.

Holm war lange Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität. In einem Fragebogen musste er 2005 Angaben zu seiner DDR-Vergangenheit machen. Er verneinte eine Mitarbeit bei der Stasi.

Holm ist am 1. September 1989 Offiziersschüler der Stasi geworden. Die Abteilung, in der er gearbeitet hat, war auch für die Verfolgung Oppositioneller zuständig und hat besonders im Herbst 1989 eine wichtige Rolle gespielt, als die Revolution anrollte. Angesichts der angespannten Lage haben die Stasi-Mitarbeiter Zwölf-Stunden-Schichten geschoben, waren unentwegt in operativen Einsätzen unterwegs, beispielsweise bei Demonstrationen und Veranstaltungen. Andrej Holm sagt nicht, was konkret seine Aufgaben gewesen sind. Er gibt lediglich Routinearbeiten an, die ihm für die letzte Phase der Stasi sicher nicht mal seine früheren Genossen abnehmen.

Hat er jemandem geschadet?

Ich glaube zwar nicht, dass Holm in dieser kurzen Zeit als noch ziemlich unbedeutendes Rädchen im großen Getriebe überhaupt irgendetwas von Belang machen konnte, außer zu beobachten und darüber zu berichten, was ohnehin jeder sah und hörte, mindestens via Westmedien. Aber die Frage ist schwer zu beantworten, weil die Systeme von Geheimpolizeien perfide strukturiert sind. Eine harmlose Information meinerseits, die ich arglos weitergebe, kann in einem anderen Kontext erhebliche Auswirkungen haben.

In einem Vortrag beschreiben Sie Holm als Opfer. Warum?

Er ist in einem System aufgewachsen, das von ihm als Kind verlangt hat, lebensbestimmende Entscheidungen zu treffen. Also ist Andrej Holm auch ein Opfer des SED-Regimes, der Umstände, seiner Eltern. Für mich ist das keine Frage. Sein Eintritt in das MfS 1989 ist dann keine Opferhandlung mehr, sondern hier agiert er als Akteur, ganz klar.

Was ist über die Familie von Holm bekannt?

Sein Urgroßvater gehörte zur Elite der Kommunistischen Partei Deutschlands und war mit verantwortlich für das Druck- und Verlagswesen. 1943 wurde er in Oslo verhaftet und kam ins KZ Sachsenhausen. Nach dem Krieg versuchte er, in der sowjetischen Besatzungszone Karriere zu machen. Zwischendurch wurde er aus der SED ausgeschlossen - später aber wieder rehabilitiert. Die Stasi hat ihn intensiv überwacht. Andrej Holms Vater hat dann wiederum Karriere bei der Staatssicherheit gemacht.

In welchem Umfeld ist Holm aufgewachsen?

Andrej Holm ist im Glauben an den Sozialismus und den Antifaschismus groß geworden. Daran, dass die DDR der beste Ausweg aus der deutschen Misere sei - auch wenn nicht alles perfekt ist. Man darf nicht vergessen, dass die Stasi aus den Familien ihrer Mitarbeiter heraus gezielt den Nachwuchs rekrutiert hat. Das erklärt auch, warum Andrej Holm so früh diesen Weg einschlug - und leider nicht raus kam.

Sie selbst haben eine ähnliche Biografie wie Holm. Ihr Vater war Kommunist, Sie entschieden sich sogar schon mit zwölf Jahren dafür, Offizier in der Nationalen Volksarmee zu werden. Doch Sie haben Ihre Entscheidung revidiert. Warum?

Als ich 14 Jahre alt war, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, Befehle befolgen zu müssen. Gleichzeitig wollte ich nicht mit kurzen Haaren rumlaufen oder auf Westfernsehen und Westmusik verzichten. Meine Freunde und ich, wir sind in Berlin groß geworden, wir lebten mit unserem Kopf und unserem Körper immer zur Hälfte in West-Berlin. Irgendwann fand ich den Mut, Nein zu sagen. Es hat mich sehr, sehr viel Kraft gekostet.

"Er scheint Angst zu haben"

Hat man Sie einfach so gehen lassen?

Es begann eine anderthalb Jahre währende Odyssee. Ich musste mich als 14-Jähriger stundenlang vor Kommissionen rechtfertigen, über mein Leben, über das was ich will. Einmal schrien sie mich an, ob ich denn wüsste, wie viel ich das System schon an Ausbildung gekostet hätte. Ich sagte: "Schreiben Sie mir eine Rechnung, dann werde ich das begleichen". Meine Mutter wurde fast ohnmächtig und blieb aus Angst völlig sprachlos. Die Antwort war dann: Solche Typen wie Sie sehen wir in den Gefängnissen unseres Landes wieder. Diese Angstmacherei zog sich über viele Monate hin. Hinzu kam die Enttäuschung meines Vaters. Das ganze Ausmaß ist mir erst bewusst geworden, als ich selbst einen 14-jährigen Sohn hatte. Anders als Holm war ich kein Opfer, sondern hatte Glück, wurde selbst aktiv und bestimmte stärker über mich, als es ihm vergönnt war.

Sie gehen heute sehr offen mit Ihrer eigenen Biografie um - hätte Holm das auch tun sollen?

Ich hatte Glück und kann unbelastet reden. Holm hätte sofort eine Pressekonferenz geben müssen, wirklich alles auf den Tisch legen: seine Familiengeschichte, was er wirklich gemacht hat. Er hätte sagen können: "Ich war jung und wusste es nicht besser." Die große Mehrheit der Öffentlichkeit hätte das verstanden und den Mut zur Wahrheit honoriert. Eine große Debatte über diese Biografie hätte vermieden werden können. Er scheint Angst zu haben, mit der ganzen Wahrheit Menschen zu enttäuschen. Und er hatte wohl vor dem Hintergrund der Überprüfungspraxis in Ostdeutschland in den letzten 25 Jahren keine Chance für sich gesehen, im gehobenen öffentlichen Dienst eingestellt zu werden.

Was sagt diese Debatte über den Stand der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ?

Die Bewertung der DDR-Geschichte wurde überwiegend westlichen Eliten überlassen. Sie nahmen nach der Revolution wichtige Positionen ein: an den Universitäten oder in den Medien. Die personelle Umwälzung fand ich richtig, denn im Osten gab es dafür keine Leute. Doch diese Eliten haben die Aufarbeitung aus meiner Sicht zu einseitig betrieben. Sie brachten ihre Netzwerke mit, in die man mit einer Ostprägung nur schwer rein kam. Auch deswegen hat ein großer Teil der ostdeutschen Gesellschaft den Diskurs und die Aufarbeitung abgelehnt. Sie hatten das Gefühl, ihnen wird da etwas übergestülpt. Die Unterschiede sieht man auch jetzt in der Holm-Debatte: Die härtesten Konsequenzen fordern Leute mit westlicher Prägung. Ostdeutsche versuchen, viel mehr zu differenzieren. Sie versuchen, das ganze Kuddelmuddel, in dem sich Holm befand, zu verstehen, weil es auch Teil ihrer Biografie ist. Ich persönlich kann in gewisser Weise sogar nachvollziehen, dass Holm beim Ausfüllen des Fragebogens für die Humboldt-Universität nicht die Wahrheit angab.

Was gibt es da zu verstehen?

Die Debatte über die DDR wurde in den vergangenen Jahren sehr einseitig geführt. Jede Schuld wurde auf eine politische Institution abgewälzt: die Staatssicherheit und insbesondere die inoffiziellen Mitarbeiter. Hunderttausende Menschen hatten beim Ausfüllen dieser Fragebögen Angst um ihre berufliche Zukunft, weil sie mit der Stasi kooperiert haben. Und es ging nicht immer gerecht zu. Die Überprüfungen der Stasi-Akten wurden in den neunziger Jahren vielfach auch genutzt, um den nötigen Personalabbau betreiben zu können. Da gibt es für künftige Historiker noch viel zu analysieren.

Auf wem hätte der Fokus der Aufarbeitung liegen müssen?

Die Gesamtverantwortung hatten die hauptamtlichen SED-Funktionäre. Doch die sind davongekommen. Es ist grotesk, dass jetzt die Ministerpräsidenten von Brandenburg und Thüringen sagen, in ihrem Bundesland hätte man Holm verhindert. Dort haben ehemalige hochrangige SED-Funktionäre den Transformationsprozess im Hintergrund mit gemanagt, und sie haben dort zum Teil noch heute das Sagen. Wie die Linkspartei bis heute versucht, das MfS als eigentlichen Beelzebub hinzustellen, ist nur ein Zeichen dafür, dass manches schief lief in den letzten Jahren.

Lesetipp: Ilko-Sascha Kowalczuk hat sich in einem Essay intensiv mit dem Fall Andrej Holm und der Aufarbeitung der DDR-Geschichte auseinandergesetzt. Das können Sie hier lesen.

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