Bundestag berät zur Pflegereform:Debattiert, definiert - und dann wieder verschoben

Bessere Versorgung für Demenzkranke, mehr Unterstützung für pflegende Angehörige: Das sind die Grundzüge der Pflegereform, deren Umsetzung im Bundestag diskutiert wird. Die Regierung hält sie für einen großen Schritt, der Opposition geht das nicht weit genug. Was die Reform verspricht und wo Probleme bleiben - ein Überblick.

Thorsten Denkler und Kathrin Haimerl

Wieder feiert es die Koalition als den großen Wurf, wieder ist die Rede von einer Reform: Der Bundestag beginnt an diesem Donnerstag mit seinen Beratungen über den Gesetzentwurf zur Pflegeversicherung. Unter anderem soll die Betreuung von Demenzkranken, die ambulante Versorgung und die Unterbringung in Pflege-Wohngemeinschaften verbessert werden. Klingt gut, aber klingt auch so, als hätte man das alles schon einmal gehört. Im Jahr 2008 zum Beispiel, als die große Koalition die erste Reform der Pflegeversicherung feierte.

Was soll sich ändern?

Der Beitrag zur Pflegeversicherung soll zum 1. Januar 2013 von 1,95 auf 2,05 Prozent steigen, bei Kinderlosen auf 2,3 Prozent. Diese Erhöhung entspricht den Plänen von Schwarz-Gelb zufolge 1,1 Milliarden Euro. Das zusätzliche Geld soll für folgende Verbesserungen ausgegeben werden:

[] Leistungen: Menschen mit erheblich "eingeschränkter Alltagskompetenz" in der Pflegestufe 0, die bislang kein Geld erhalten, sollen künftig monatlich ein Pflegegeld von 120 Euro oder Pflegesachleistungen von bis zu 225 Euro erhalten. Bei den Betroffenen handelt es sich meist um Menschen mit Demenz oder geistiger Behinderung. In den Pflegestufen 1 und 2 erhöhen sich die Sachleistungen von derzeit 450 Euro auf 665 Euro beziehungsweise von 1100 auf 1250 Euro.

[] Angehörige: Pflegende Angehörige sollen leichter eine Auszeit nehmen können. Künftig wird das Pflegegeld zur Hälfte weitergezahlt, wenn sie eine Kurzzeit- oder Verhinderungspflege für ihren Pflegebedürftigen in Anspruch nehmen.

[] Betreuung: Ambulante Pflegedienste sollen künftig neben der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung auch gezielt Betreuungsleistungen anbieten.

[] Pflege-WGs: Wohnformen zwischen der ambulanten und der stationären Betreuung werden zusätzlich gefördert.

[] Private Pflege-Zusatzversicherungen: Sie sollen mit einem eigenen Gesetz durch 100 Millionen Euro vom Bund gefördert werden. Allerdings ist weiter offen, wie das Programm ausgestaltet werden soll. (Siehe auch Frage: Was ist der Pflege-Bahr?)

Linktipp: Der Entwurf des Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung als Pdf-Datei.

Welche Änderungen gab es bereits?

Bei dem Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb handelt es sich bereits um die zweite Reform seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 unter Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU). 2008 verabschiedete die große Koalition nach jahrelangem Streit die ersten Änderungen. Der Beitrag zur Pflegeversicherung stieg um 0,25 Prozentpunkte auf 1,95 Prozent. Für Altersverwirrte und psychisch Kranke wurden zusätzliche Angebote geschaffen, für Angehörige besteht seither ein unbezahlter kurzfristiger Freistellungsanspruch für bis zu zehn Arbeitstage. Pflegeheime werden einmal pro Jahr einer Prüfung unterzogen (siehe Frage: Was wurde aus dem Pflege-TÜV?)

Auch damals war die Rede von einer "bahnbrechenden Reform", von mehr Betreuung und einer besseren Versorgung Demenzkranker. Ein FDP-Politiker namens Daniel Bahr warf Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) vor, sie habe die Augen vor den Problemen einer alternden Gesellschaft verschlossen - ein Vorwurf, den sich Gesundheitsminister Bahr nun selbst gefallen lassen muss.

Was ist der Pflegebedürftigkeitsbegriff?

Was als Pflegebedürftigkeit definiert wird, ist der eigentliche Knackpunkt im Streit um die Reform, der bereits seit 2006 diskutiert wird und nun endlich neu geregelt werden sollte. Doch eine neue Definition findet sich auch in dem aktuellen Gesetzentwurf nicht. Vielmehr vertröstet Bahr die Angehörigen von Demenzkranken erneut, die seit Jahren fordern, dass der Begriff auch geistig-seelische Einschränkungen umfassen möge.

Der aktuell geltende Begriff, der in Paragraph 14 Sozialgesetzbuch geregelt ist, ist sehr stark auf körperliche Gebrechen ausgerichtet. Zwar heißt es in Absatz 1, dass jene Personen pflegebedürftig sind, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen Verrichtungen im Alltag in erheblichem Maß auf Hilfe angewiesen sind. Nun könnte man meinen, dass damit auch geistig-seelische Einschränkungen abgedeckt sind. Doch Absatz 2 listet ganz genau die Krankheiten und Behinderungen auf, die unter diese Definition fallen. Demenz findet sich nicht darunter. Der anschließende Paragraph 15 definiert die drei Pflegestufen.

Pflegestufe null existiert darin allerdings nicht, ganz im Gegensatz zu Bahrs Gesetzesentwurf, der diese explizit erwähnt. Demnach sollen Versicherte der "sogenannten Pflegestufe null" vorübergehend - bis zur neuen Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs also - Anspruch auf Pflegegeld oder Pflegesachleistungen erhalten. Der Gesetzentwurf bezieht sich dabei auf "Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen". Schwarz-Gelb rettet sich so über die bislang fehlende Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs hinweg.

Wie soll der Pflegebegriff neu definiert werden?

Wie soll dieser neu definiert werden?

Gegner kritisieren, dass der geltende Begriff zu sehr auf Defizite und auf körperliche Gebrechen abstelle. Derzeit stehe die Frage im Mittelpunkt: "Was kann ein Mensch nicht mehr?" Die kognitiven Fähigkeiten werden weder im positiven noch im negativen Sinne erfasst.

Bereits 2006 setzte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) einen "Beirat für die Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs" ein, der 2009 seinen Bericht vorlegte. Darin enthalten: Vorschläge zur Neuregelung des Begriffs und auch Möglichkeiten, wie dies finanzierbar sei. Unter anderem spricht sich das Gremium dafür aus, den Blickwinkel zu ändern. Ausgangspunkt der neuen Definition sollte die Frage sein: "Was kann ein Mensch noch?" Anstelle der drei Pflegestufen empfiehlt das Gremium fünf Bedarfsgrade. Darüber hinaus legt der Beirat auch Vorschläge vor, wie eine finanzielle Umsetzung aussehen könnte.

Seit etwa drei Jahren also sind dem Gesundheitsministerium die Fakten bekannt, inklusive der Kostenberechnungen. Doch getan hat sich bislang nichts. Die Vorlage des Berichts fiel mit dem Ende der Legislaturperiode der großen Koalition zusammen. Schmidt übergab die Ergebnisse ihrem Nachfolger Philipp Rösler (FDP). Der ist inzwischen Wirtschaftsminister und überließ die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs wiederum seinem Nachfolger Bahr.

Dem reichten aber die Ergebnisse des Berichts offenbar nicht aus: Im März berief er einen neuen "Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs" ein. Es solle darum gehen, wie die in dem ersten Bericht aufgezeigten Szenarien konkret umzusetzen seien, heißt es aus dem Gesundheitsministerium auf SZ-Anfrage. Warum dazu auch der Umsetzungsbericht des Beirats unter Ulla Schmidt nicht ausreichte, vermochte der Sprecher nicht zu erklären.

Was ist der Pflege-Bahr?

Analog zur Riester-Rente, die auf den früheren Arbeitsminister Walter Riester zurückgeht, will Gesundheitsminister Daniel Bahr einen sogenannten Pflege-Bahr einführen. Gemeint ist eine freiwillige private Zusatzversicherung, um dem Risiko, im Alter ein Pflegefall zu werden, zumindest finanziell vorzubeugen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, längst nicht so hoch, wie Rentner zu werden. Die FDP will deshalb neben der staatlichen Pflegeversicherung die private Absicherung ausweiten. Ob das etwas hilft, hängt wohl davon ab, welche Leistungen die privaten Anbieter zu erbringen haben. Die Riester-Rente jedenfalls hat sich für viele Sparer im Nachhinein als Flop erwiesen. Ein einfaches Sparkonto würde manchem eine höhere Rendite einbringen.

Ändert sich durch das Gesetz etwas an den Zuständen in den Pflegeheimen?

Erst mal nicht. Vor allem deshalb nicht, weil die derzeitigen Missstände in den Pflegeheimen schon jetzt vom Gesetz nicht gedeckt sind. Von 2014 an soll es immerhin mehr Geld für die Betreuung von Demenzkranken geben, wenn auch längst nicht genug. Demente Menschen etwa, die von ihren Angehörigen zu Hause betreut werden, sollen für ihre Pflege künftig 220 Euro statt 100 Euro bekommen. Das lindert nach Ansicht der Betroffenenverbände die Not, beseitigt sie aber nicht.

Was ist aus dem Pflege-TÜV geworden?

Was ist aus dem Pflege-TÜV geworden?

Der Pflege-TÜV funktioniert, das zeigt sich nicht zuletzt am dritten Bericht zur Lage in den Pflegeheimen des medizinischen Dienstes der gesetzlichen Krankenkassen, der in dieser Woche veröffentlicht wurde. Erschreckendes Ergebnis: Fast 140.000 der mehr als 700.000 in Pflegeheimen untergebrachten Menschen werden festgebunden. Viele sind wundgelegen, ein sicheres Zeichen für mangelhafte Betreuung. Wie es im Pflegeheim vor Ort aussieht, kann inzwischen an den sogenannte Pflegenoten abgelesen werden. Unter www.pflegenoten.de finden sich alle nötigen Informationen zur Suche nach und Bewertung von Pflegeheimen. Kritiker bemängeln zwar die nicht immer ganz einleuchtenden Bewertungskriterien. Doch einen groben Überblick ermöglichen die Daten.

Was sagen Sozialverbände und Opposition?

Die Kritik am Gesetzentwurf von Minister Bahr ließ nicht lange auf sich warten. Unisono wird bemängelt, dass für Demenzkranke nicht genug Geld bereitgestellt wird und der längst überfällige "neue Pflegebegriff" noch immer nicht definiert worden sei. Dass es neben der gesetzlichen Pflegeversicherung auch eine private Absicherung geben soll, wird als der falsche Weg angesehen. Der habe sich schon mit der Riester-Rente als misslich herausgestellt, heißt es heute sogar aus der SPD.

Mit Material der Agentur dpa

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