Drogenkrieg in Mexiko:"Alles total außer Kontrolle"

Drogenkrieg in Mexiko: Polizisten, die den Strand bewachen - in Mexiko ist das kein ungewohntes Bild: Hier in Cancun nach einer tödlichen Schießerei im Januar 2017.

Polizisten, die den Strand bewachen - in Mexiko ist das kein ungewohntes Bild: Hier in Cancun nach einer tödlichen Schießerei im Januar 2017.

(Foto: AP)
  • Mehr als 12 000 Menschen sind alleine in den ersten sieben Monaten 2017 von den Drogenkartellen in Mexiko schon ermordet worden.
  • Auch exklusive Strandorte wie Los Cabos sind neuerdings nicht mehr sicher.
  • Das Militär ist nach zehn Jahren Drogenkrieg des Kämpfens müde. Neue Strategien fehlen.

Von Beate Wild, Mexico City

Die Mörder kommen an einem sonnigen Sonntagnachmittag. Am Playa Palmilla in San José del Cabo dösen etwa 500 Badegäste im weißen Sand, als auf einmal Schüsse ertönen. Erst ein paar einzelne, dann lange Maschinengewehrsalven. Panik. Geschrei. Menschen fliehen in alle Richtungen. Manche retten sich in den türkisblauen Pazifik. Andere suchen Zuflucht in den Restaurants am Strand.

Nach einigen Minuten ist der Spuk vorüber. Schnell ist klar, was passiert ist: Drei Männer sind tot, ein weiterer Mann und eine Frau schwer verletzt. Ein Baby hat irgendwie überlebt (hier Fotos und Videos vom Tatort). Die fünf Angreifer können unerkannt entkommen. Doch für die Menschen in San José del Cabo steht fest: Sie waren "Sicarios", Auftragskiller. Geschickt von einem der vielen Drogenkartelle. Gekommen, um gezielt Menschen umzubringen. Aus Rache, wegen Revierkämpfen, um eine Warnung zu platzieren - die Gründe können mannigfaltig sein. Es waren drei von insgesamt elf Morden an diesem Wochenende alleine in dieser Gegend.

Der Vorfall von Playa Palmilla ist der vorläufig grausame Höhepunkt in Baja California Sur, Mexikos zweitkleinstem Bundesstaat. Dort ist in den vergangenen sieben Monaten die Mordrate geradezu explodiert: um 369 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Auch im Rest Mexikos verzeichnet der Drogenkrieg traurige Höchstwerte. In den ersten sieben Monaten 2017 mussten mehr als 12 000 Menschen ihr Leben lassen. So viele, wie seit Beginn der Aufzeichnungen vor 20 Jahren (Vergleichszeitraum) nicht. Alle 20 Minuten gibt es in Mexiko nun eine Exekution.

Baja California Sur, die Südspitze der Halbinsel am Pazifik, ist eine der wichtigsten Tourismusregionen Mexikos. Was für die Reichen und Schönen früher Acapulco war, sind heute die beiden exklusiven Urlaubsorte Cabo San Lucas und San José del Cabo, kurz Los Cabos genannt. Hollywood-Stars wie George Clooney, Jennifer Aniston, Scarlett Johansson und Leonardo DiCaprio quartieren sich hier in den Luxus-Ressorts ein.

Seit Jahren steigen die Besucherzahlen, neue Hotels werden im Akkord hochgezogen. Von Kartellkämpfen und Morden war dieses Paradies bislang verschont geblieben. Seit etwa einem Jahr ist jedoch alles anders. Der Grund: Die Kartelle operieren auf einer neuen Transportroute und verschiffen ihre Ware über den Pazifik, um die Drogen in die USA zu schaffen, sagen Experten. Die Gegend um Los Cabos ist offenbar zu einem neuen Hauptumschlagplatz geworden.

Hermelinda Vargas ist die Chefin der lokalen Nachrichtenseite Colectivo Pericú. An jenem 6. August erhält sie einen Anruf eines zu Tode erschrockenen Augenzeugen. Nachdem er ihr geschildert hat, was gerade passiert ist, zögert Vargas nicht. Sie setzt sich in ihr Auto und fährt zum Playa Palmilla. 20 Minuten nach der Tat kommt sie dort an. Sie schaltet ihre Handy-Kamera ein und fängt an, das Geschehen am Tatort live auf Facebook zu übertragen.

Als Reporterin berichtet Vargas regelmäßig über die Morde der Kartelle - auch wenn Live-Streaming vom Tatort bislang noch eine Ausnahme ist. Zunächst zögert sie, mit uns über die Verbrechen der Narcos, der Drogenhändler, zu reden - aus Angst vor Konsequenzen. Auch andere Journalisten und Anwohner lehnen dankend ab, wollen anonym bleiben und sich lieber nicht äußern. Dann ändert Vargas ihre Meinung doch noch und erzählt von ihren Erfahrungen. "Klar war ich besorgt, über diese Gewalttat zu berichten", sagt die 52-Jährige über ihren Einsatz am Playa Palmilla. Die Szenen am Strand seien furchtbar gewesen. Sie habe nach Beendigung des Live-Streams geweint. Trotzdem sei es notwendig, die Machenschaften dieser Kriminellen nicht zu verschweigen.

Alles außer Kontrolle

Viele Einheimische denken bisher, dass einem nichts passiere, wenn man nichts mit den Kartellen zu tun hat und sich nicht einmischt. Doch das Massaker am Playa Palmilla mitten am Nachmittag hat alle aufgeschreckt. "Es macht einen traurig zu sehen, was hier passiert. Ist es jetzt schon so weit, dass wir nicht einmal mehr zum Strand gehen können?", schreibt ein junger Familienvater auf Facebook. "Alles total außer Kontrolle", kommentiert ein anderer Anwohner die Nachrichten über die Schüsse am Strand.

Andere sorgen sich mehr um das Image ihrer Stadt und darum, was die Verbrechen für die Urlaubsregion bedeuten. "Adiós Tourismus", schreibt einer. Und eine andere: "Teilt das bitte nicht. Das ist schlecht für alle. Das schädigt uns alle, sehr schlechte Werbung für uns als Reiseziel."

Eine Mitschuld am Gewaltexzess trage die Regierung, die die Kartelle und den Drogenhandel einfach nicht entschieden genug, beziehungsweise falsch bekämpfe, meint Vargas. Als Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto vor fünf Jahren ins Amt kam, versprach er seinem Volk, dem Drogenkrieg ein Ende zu bereiten und Themen wie Schulreform und Modernisierung des Energienetzes anzugehen.

Anfangs klappte das auch, die Morde wurden weniger. Doch in den vergangenen drei Jahren kehrte die Gewalt nach Mexiko zurück - stärker als jemals zuvor. Vor allem die Bundesstaaten Guerrero, Michoacán und Tamaulipas sowie Grenzstädte zu den USA wie Tijuana und Ciudad Juárez leiden unter den Kartellen.

Nachfrage in den USA nach Drogen enorm gestiegen

Beigetragen zur Gewalteskalation haben zwei Dinge: Erstens stieg in den USA die Nachfrage nach Kokain und synthetischen Drogen enorm. Und zweitens schadeten die Verhaftungen von ranghohen Drogenbossen wie Joaquín "El Chapo" Guzmán nicht wie erwartet den Kartellen, sondern heizten die Machtkämpfe um die frei gewordenen Führungspositionen erst recht an.

Nach der - bereits dritten - Festnahme von "El Chapo", dem Vordenker und Chefplaner des Sinaloa-Kartells, zerfiel die kriminelle Organisation in Splittergruppen. Seine beiden designierten Nachfolger "El Mayo" und "El Licenciado" erwiesen sich als unfähig, letzterer wurde im Mai schließlich ebenfalls verhaftet. Die Kartelle sind heute stärker fragmentiert als früher, die Schlacht um die Aufteilung der Gebiete ist brutaler als jemals zuvor.

Massengräber und Entführungen

Immer wieder werden Massengräber gefunden, zuletzt eines mit 14 Leichen in den Bergen von Valparaíso. Die Körper waren zerstückelt. Vermutlich das Werk von Narcos, die unliebsame Zeugen oder lästige Konkurrenten loswerden wollten. Außerdem sind Entführungen in den Stammregionen der Kartelle keine Seltenheit.

Im September 2014 verschwanden im Bundesstaat Guerrero 43 Studenten, die offenbar gekidnappt wurden. Nur zwei der Verschwundenen sind nachweislich tot. Bis heute weiß niemand, was den anderen 41 zugestoßen ist. Die Wut der Bevölkerung auf die Regierung ist groß. Der Polizei vertraut kaum noch jemand, denn viele Beamte werden vom organisierten Verbrechen bestochen und stecken mit den Kriminellen unter einer Decke.

Für Journalisten wie Vargas ist die Situation fast unerträglich geworden. Kaum ein Job ist so gefährlich wie der des Lokalreporters in Mexiko. Alleine 2017 wurden bislang acht Journalisten hingerichtet, weil sie offenbar zu viel wussten und den Kartellen zu unbequem wurden. Einer von ihnen war Maximino Rodríguez, ein Kollege von Vargas. Er berichtete wie sie für Colectivo Pericú. Am 14. April wurde er am Eingang eines Einkaufszentrums in La Paz, der Hauptstadt von Baja California Sur, erschossen.

"Dieses Verbrechen hat uns sehr weh getan", sagt Vargas. "Seit seiner Ermordung haben sich sieben von unseren Reportern dazu entschlossen, nicht mehr über die Gewalt zu berichten, sondern lieber über andere Themen zu schreiben." Die Angst, der nächste zu sein, sei zu groß. Die wenigen, die noch über die Verbrechen der Narcos berichten, bräuchten viel Mut und müssten gesteigerte Vorsicht walten lassen. "Aber unsere Absicht ist es, nicht zu verbergen, was sich in Los Cabos abspielt."

Nach zehn Jahren Drogenkrieg ist das Militär müde

Doch wie kann es Mexiko schaffen, aus diesem Teufelskreis aus Gewalt, Drogen und Korruption auszubrechen? "Eine bessere Schulbildung und Erziehung für unsere Kinder sind elementar", sagt Vargas. Mit ihrer Meinung ist sie nicht alleine. Es ist Konsens in der mexikanischen Verbrechensbekämpfung, dass es das Wichtigste sei, jungen Menschen eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, damit sie nicht auf den falschen Weg geraten und sich nicht vom leicht verdienten, schnellen Geld der Drogenbosse locken lassen. Außerdem läge es auch an den Familien, ihre Kinder am Verkauf von Drogen zu hindern, meint Vargas.

Mehr als zehn Jahre nachdem Mexiko den Krieg gegen die Drogen aufgenommen hat, ist die Situation schlimmer statt besser. Viele sagen, die Entscheidung des damaligen Präsidenten Felipe Calderon, Ende 2006 das Militär in den Kampf gegen die Kartelle zu schicken, hätte eine unnötige Tragödie ins Rollen gebracht. Mehr als 100 000 Menschen mussten seither ihr Leben lassen, etwa 30 000 werden vermisst. Die USA haben die Mexikaner mit Millionen von Steuergeldern finanziell unterstützt, gebracht hat das alles so gut wie gar nichts.

Das Militär ist nach den zehn Jahren müde, dieses Gefecht zu führen, das man nicht gewinnen kann. Der Ruf nach einer neuen Strategie wird lauter. "Das ist nichts, was man mit Kugeln lösen kann", sagt Verteidigungsminister Salvador Cienfuegos. Es brauche andere Methoden. Aber dafür fehlt bislang das Geld.

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