Kopfarbeit im Fußball:"Mentaler Zusammenbruch wie im Lehrbuch"

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Wenn der Kopf das Spiel bestimmt: Sportpsychologe Bernd Strauss erklärt im Gespräch mit Süddeutsche.de, was nach dem zweiten Gegentor mit der brasilianischen Mannschaft passiert ist - und worauf die Deutschen vor dem Finale achten sollten.

Von Felicitas Kock

Herr Strauss, seit Oliver Kahn wissen wir, dass Fußballspiele im Kopf entschieden werden. Stimmt das denn?

Bernd Strauss: Natürlich nicht, aber der Kopf spielt eine große Rolle. Die spielerische Stärke einer Mannschaft, der athletische Faktor, die Taktik - das alles ist wichtig. Wenn zwei Mannschaften in diesen Dingen aber ähnlich stark sind, wie wir es bei dieser Weltmeisterschaft jetzt häufig erlebt haben, kann die Psychologie den Ausschlag geben.

Was war dann am Dienstag in den Köpfen der Brasilianer los?

Zunächst muss man sagen, dass die Gastgeber ganz objektiv geschwächt waren. Neymar ist ausgefallen, genauso wie Abwehrchef Thiago Silva. Aber schon mit bester Besetzung haben sich die Brasilianer schwergetan, gegen Chile zum Beispiel. Das Team ist gut, aber eben keine Übermannschaft. Und dann haben sie und ihr gesamtes Umfeld die beiden Ausfälle viel zu sehr überhöht.

Inwiefern?

Alle haben nur noch über Neymar gesprochen. Darüber, wie sie trotz Neymars Verletzung das Spiel gewinnen werden. Wie sie für Neymar siegen werden. Dabei hätten sie sich in der Situation besser auf sich selbst konzentriert. Auf die Mannschaft, die tatsächlich auf dem Platz steht.

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Die Heim-WM schürte riesige Erwartungen. War der Druck zu groß?

Alle Spieler, die eine WM bestreiten, sind Druck gewöhnt. Sie nehmen nicht erst seit gestern an Turnieren teil. Was wir gesehen haben, war aber kein normales Spiel - und es waren keine normalen Umstände. Eine Weltmeisterschaft im eigenen Land baut zusätzlichen Druck auf. Mehrere Spieler haben in Interviews betont, dass sie für das Volk gewinnen wollen. Sie haben sich da eine Menge auf die Schultern gepackt. Das Ganze war emotional extrem aufgeladen und alle im Land sind wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihr Team gewinnt. Weil es ja die Seleção ist. Und ein vermeintlicher Heimvorteil besteht.

Dann kam das erste Gegentor.

Und das zweite. In dem Moment wurde den Spielern ihre Situation in aller Heftigkeit bewusst: Sie spürten den ungeheueren Druck, der auf ihnen lastete. Gleichzeitig erkannten sie, wie geschwächt ihr Team tatsächlich war. Was folgte, glich einem mentalen Zusammenbruch wie im Lehrbuch. Die brasilianischen Spieler haben das Vertrauen in ihr Können verloren und erkannt, dass sie es nicht mehr schaffen werden. Sie sind in eine Abwärtsspirale geraten, die nicht mehr zu stoppen war. Aus dieser psychischen Dynamik heraus sind auch die drei nächsten Treffer zu verstehen.

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Wie schwierig ist es, sich in so einer Situation wieder zu fangen? Und wie verhindert man, dass es überhaupt so weit kommt?

Wenn Sportpsychologen länger mit einem Team zusammenarbeiten, können sie Spielern bestimmte Techniken an die Hand geben, mit denen sie sich in Ausnahmesituationen wieder fokussieren können. "Selbstregulation" heißt das in der Fachsprache. Aber auch das klappt natürlich nicht immer. Am Dienstag ging einfach alles sehr schnell - zu schnell für die Brasilianer.

Wie sehen solche Routinen normalerweise aus?

Sie sehen so etwas zum Beispiel vor Elfmetern, wenn ein Spieler jedes Mal das gleiche Ritual durchzieht, sich bekreuzigt oder den Ball auf eine bestimmte Weise zurechtlegt. Das ist keine Spinnerei, sondern eine Maßnahme, um sich zu fokussieren, zu konzentrieren. Solche Dinge werden trainiert.

Es hat bereits Kritik an der Betreuung der brasilianischen Mannschaft gegeben. Die zuständige Psychologin soll vor dem Turnier Profile der Spieler erstellt haben - wurde aber erst spät wieder konsultiert, als der Druck kaum mehr zu ertragen war.

Das ist natürlich ein Unding. Sportpsychologen sind keine Feuerwehrleute, die im Notfall löschen. Und sie legen auch nicht schnell mal die Hand auf und dann ist alles wieder im Lot. Im Gegenteil. Der betreuende Psychologe muss die einzelnen Spieler und die Mannschaft als Einheit über einen längeren Zeitraum kennenlernen. Ein Vertrauensverhältnis muss sich entwickeln. Dann kann der Psychologe beispielsweise erkennen, wer vor einem Spiel aufgeregt ist und Entspannung braucht, wer dagegen eher aktiviert werden muss - und was einer Mannschaft in der Krise wirklich hilft.

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Die deutsche Mannschaft hat Hans-Dieter Hermann. Wird er sie zum Sieg im Finale führen?

Nun ja, Sportpsychologen schießen leider keine Tore und die Mannschaft wird immer noch vom Trainer geführt. Aber Hans-Dieter Hermann hat sicher einen Anteil am Erfolg. Man merkt der deutschen Elf an, wie geerdet sie ist, wie sie als Mannschaft zusammenwirkt und sich unbeirrt auf ihre Aufgabe fokussiert. Auch wenn die Brasilianer physisch und psychisch geschwächt waren, ist so ein 7:1-Sieg nicht selbstverständlich.

Jetzt gehen die Deutschen mit diesem überragenden Ergebnis ins Endspiel. Ideale Ausgangsbedingungen?

So ein Sieg ist natürlich wunderbar. Er gibt den Spielern das Vertrauen, eine Partie gegen eine gute Mannschaft zu gewinnen. Gleichzeitig muss das Team das Ganze auf eine realistische Ebene herunterbrechen. Das Halbfinale war ein Sonderfall und so ein Spiel wird es höchstwahrscheinlich nicht noch einmal geben.

Bernd Strauss, 55, ist Präsident der Sportpsychologen in Deutschland und Professor am Institut für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sein Buch "Der Fußball - die Wahrheit. Wie Fußballspiele im Kopf entschieden werden" ist 2013 im Süddeutschen Verlag erschienen.

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