Hameln:Das Leben nach dem Grauen

Polizei - Spurensicherung

In der Königstraße in der Hamelner Innenstadt hat sich im vergangenen November die Gewalttat ereignet.

(Foto: dpa)
  • Vor dem Landgericht Hannover hat der Prozess gegen den 39-jährigen Nurettin B. wegen versuchten Mordes und Bedrohung begonnen.
  • Er soll im November seine Exfrau mit einem Seil an sein Auto gebunden und durch die Hamelner Innenstadt geschleift haben. B. hat die Tat bereits gestanden.
  • Die 28-jährige Kader K. überlebte die Gewalttat schwer verletzt. Heute hat sie Schmerzen, Schlafstörungen, Albträume.

Von Peter Burghardt, Hannover

Sie weiß noch nicht alles, als sie aus dem Koma erwacht. Ob sie wisse, was passiert sei, fragt sie auf der Intensivstation der Bruder. "Ja, der Täter hat mich niedergestochen", antwortet sie. "Fahr mich nach Hause, ich will meinen Sohn sehen." Aber sie ist so schwer verletzt, Kader K. kann in diesem Moment nicht nach Hause, bis zur Heimkehr im Spätherbst 2016 wird es noch Monate dauern. Erst Tage später erfährt sie, dass dieser Täter ihr auch ein Seil um den Hals gebunden und sie hinter seinem Auto durch Hameln geschleift hatte. Sie, seine frühere Frau. Den kleinen, gemeinsamen Sohn auf dem Rücksitz. "Ich dachte, ich wäre im Traum", sagt die Überlebende leise. Ihre Stimme klingt müde und sanft.

Alle Zuhörer im Landgericht Hannover sind still, als Kader K. an diesem Montag im Zeugenstand spricht. Sie, die Deutsch-Kurdin, der eine unfassbare Tat das Leben verwüstet hat. Die kleine, leicht gebückte Frau wird begleitet von Anwalt und Psychologin. Sie trägt ein dunkelblaues Kopftuch mit weißem Muster und eine weiße Bluse. Die 28-Jährige verdeckt ihre Haare, weil sie die Narben am Kopf nicht zeigen und ihre Aussage hier nicht mit einem Käppi machen will. Die Kopfhaut brenne, sagt sie, und an mehreren Stellen wachse nichts mehr nach. "Jedes Mal, wenn ich mich dort anfasse, erinnere ich mich an das, was er mir angetan hat."

Sechs Monate ist das jetzt her, das Drama löste bundesweit Entsetzen aus. Ein ebenfalls deutsch-kurdischer Mann stach und schlug am 20. November 2016 mit Messer und Axt auf seine frühere Partnerin ein und band sie dann mit einem Strick an die Anhängerkupplung, um sie mit 80 Sachen durch die niedersächsische Stadt Hameln fast zu Tode zu schleifen. Dabei sollte er ihr doch nur den Jungen zurückbringen.

Polizisten schützen den Saal

Als der Prozess an diesem Vormittag beginnt, ist die Aufregung entsprechend. Polizisten schützen den Saal 127, zahlreiche Reporter sind erschienen und viele Zuschauer, darunter Angehörige dieses ehemaligen Paares. Der Anklagte Nurettin B. kommt mit Handschellen aus der Untersuchungshaft in Hannover. Sie ist Hauptzeugin und Nebenklägerin in eigener Sache.

Erstmals seit dem Horror begegnen sie sich wieder, hier vor der Strafkammer 13. Sie sieht ihn nicht an und nennt ihn nur "der Täter". Er lässt sie in seinem Geständnis "Frau K." (mit ganzem Nachnamen) nennen, sitzt aufrecht und starrt vor sich hin. Nurettin B. hat dunkle Haare und kam vor 39 Jahren in der Türkei zur Welt. Nun muss er sich wegen einer schweren Straftat verantworten, die eine lange Gefängnisstrafe zur Folge haben könnte. Er habe "grausam versucht, einen Menschen zu töten", sein Opfer "körperlich misshandelt" und ihre Gesundheit geschädigt, trägt die Staatsanwältin vor.

Die Anklage skizziert, wie Nurettin B. seine Exfrau im Streit um Unterhaltszahlungen bereits zuvor bedroht habe: Wenn das mit der Pfändung seines Lohnes nicht aufhöre, dann werde "einer von uns bald nicht mehr leben". Die zwei hatten sich nach kurzer Ehe nach islamischem Recht getrennt, der damals kaum dreijährige Junge wohnte bei ihr und wurde von ihm immer wieder abgeholt. An jenem Abend folgten den Beschimpfungen auf der Straße seine Faustschläge, ehe er mit einer 12,4 Zentimeter langen und vier Zentimeter breiten Klinge immer wieder auf ihren Oberkörper einstieß. Er fügte ihr tiefe Wunden in der Brust zu, am Herzen, in den Flanken, im Bauch.

Nurettin B. holte stattdessen eine Axt aus dem Kofferraum

"Mit einer Wucht, das war ganz schrecklich", berichtet eine andere Zeugin. Wie besessen sei er gewesen. Es sei ihm egal gewesen, als sie ihm sagte, dass sie 110 gewählt habe. "Bitte, bitte, lassen Sie die Frau los, die Polizei kommt gleich", flehte sie. Nurettin B. holte stattdessen eine Axt aus dem Kofferraum und schmetterte sie auf Körper und Schädel der am Boden liegenden Kader K., während diese um Hilfe schrie. Danach habe er sie mit dem Kopf mittig hinter seinen Pkw gezerrt, die Schlingen befestigt und Vollgas gegeben.

Mit lebensbedrohlichen Stichwunden und Schädelbrüchen wird Kader K. später in die Klinik gebracht, dort reanimiert und zur Notoperation mit dem Hubschrauber nach Hannover geflogen. Nur wegen der Erschütterungen hatte sich der Knoten um ihren Hals gelöst, laut Anklage nach 298 Metern, sonst wäre sie tot. Der kleine Sohn saß die ganze Zeit im Fond und erlebte alles mit. Er wurde ebenfalls zum Nebenkläger ernannt und wird von einem Anwalt vertreten.

Nurettin B. lässt über seine Verteidiger schon an diesem ersten Verhandlungstag alles zugeben. "Ich bekenne mich schuldig." Er habe eine "grauenvolle, widerliche und abscheuliche Tat begangen". Dass er dazu in der Lage gewesen sei, "hätte ich nie für möglich gehalten". Es tue ihm unendlich leid für Frau K., seinen Sohn und beide Familien. Dass sie das Verbrechen überlebt habe, "dafür danke ich meinem Gott".

"Ich habe sie einfach nur töten wollen. Ich hatte einfach einen wahnsinnig starken Hass."

Von seinem Verteidiger verlesene Mitteilung des Angeklagten Nurettin B. über seine Exfrau

Ein Messer habe er immer dabei gehabt

Unklar ist nur dieser Teil seiner Einlassung: Er habe sich an jenem 20. November 2016 nach der Pfändung seines Gehalts selbst umbringen, gegen einen Baum fahren wollen. Ein Messer habe er immer dabeigehabt, Axt und Seil nur wegen Gärtnerarbeiten. Dann habe Frau K. einen sehr verletzenden Satz gesagt, und er sei "völlig ausgerastet. Ich habe sie einfach nur töten wollen. Ich hatte einfach einen wahnsinnig starken Hass."

Frau K. stellt das anders dar, als reinen Vorsatz. Sie schildert, wie sie ihn 2013 bei einer kurdischen Demo kennenlernte. Sie ist Aktivistin, er suchte Abwechslung. Sie erzählt, wie sie Mitleid mit ihm hatte, wie er dann anfing, sie zu beleidigen und zu bedrohen, immer wieder. "Ich war für ihn wie eine Sklavin." Jugendamt, Gerichte und Anwälte schalteten sich ein, es ging auch ums Geld. Als er ihr nach der Trennung den Sohn brachte, habe er sie stets vor dem Jungen bespuckt. Schlimme Wörter fielen, die Verteidigung des Angeklagten trägt auch eine Textnachricht von ihr vor.

Wie es ihr geht, will der Richter wissen. Erst im März kam sie aus der Reha, nach vier Monaten. Sie hat noch Schmerzen, Schlafstörungen, Albträume, bald geht sie in eine Traumaklinik. Auch ihr Sohn wache wie sie jede Nacht auf und schreie. "Mama, ich habe Angst. Er hat dir Aua gemacht, er hat dich umgebracht." Bereits beim dritten Termin am Mittwoch kommender Woche will das Gericht sein Urteil fällen.

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