Mutter Hayriye fragt sich, wozu sie vor vier Jahren nach Deutschland kam. Mit einem gefälschten Pass, in einem Schlepper-Lkw. "Wir mussten aussteigen, durch Bäche laufen, Wasser bis zur Brust. Im Dunkeln." Sie geht auf die sechzig zu, kauert sich auf eine Matratze am Boden hin, umarmt ihre Knie, schließt die zugeweinten Augen. Die Haut an ihren Händen glänzt ledern, das schwarze Kopftuch ist fest gebunden. Hayriye K. wohnt nun in dieser Dachgeschosswohnung in Hameln mit schräg angeschnittenen Wänden.
Sie hat sieben Kinder auf die Welt gebracht, vier von ihnen leben seit 2001 in Deutschland. Sie wuchsen ohne Mutter auf. "Das wollte ich endlich nachholen", sagt sie, kaum hörbar, als spräche sie mit ihren Knien. "Ich wollte sie an mich drücken. Nicht mehr weinen müssen beim Essen." Nach all den Jahren Telefon und Skype und: Mama, bei uns schneit's, Mama alles gut bei euch? Es war nicht alles gut bei Mama und Papa, ihr Dorf in der türkischen Provinz Şırnak unweit der syrischen und der irakischen Grenze geriet ins Visier des Militärs. Papa wurde mehrmals verhaftet, ein Bauer, der auf Demonstrationen prokurdischer Parteien ging.
Ein Stich in die Lunge, einer in die Milz
Mutter Hayriye schlug sich nach Deutschland durch und beantragte Asyl. Eine ihrer Töchter heißt Kader. Betonung auf dem "E", Kader bedeutet "Schicksal". Kader, 28 Jahre alt, wohnte im Zimmer nebenan und kochte in einem kurdischen Lokal in Coppenbrügge. Nun liegt sie auf einer Intensivstation in Hannover.
Am Abend des 20. November wurde Kader K. auf der Straße von ihrem Ex-Mann niedergestochen. Ein Stich in die Lunge, einer in die Milz. Der Mann, auch er kurdischer Flüchtling, band ihr danach ein Seil um den Hals und schleifte sie hinter seinem Auto her. Ein Möbelarbeiter aus Eimbeckhausen, zehn Jahre älter als sie. Über Asphalt, über Kopfstein, 250 Meter weit, mit Tempo 80 durch die Innenstadt, bis sich in der zweiten Kurve, gegenüber dem Kosmetikstudio Le Visage, das Seil löste.
Sie haben einen gemeinsamen Sohn, den lockigen, milchbackigen Cudi, genannt nach einem hohen Berg in der Provinz Şırnak. Cudi wird bald drei Jahre alt. Er reicht schon zur Begrüßung die Hand. Am 20. November saß er mit im Auto. Mutter Hayriye guckte an dem Abend kurdische Nachrichten am großen Flachbildschirm. Und auf einmal füllte sich der enge Flur mit Polizisten. Sie weint nun auf ihrer Matratze. "Dafür bin ich nach Deutschland gekommen?"
Während der Schwangerschaft trat er ihr in den Bauch
Je mehr Zeit seit der Tat verstreicht, desto mehr Fragen hat sie. Die Stadt Hameln hat eine Mahnwache abgehalten, der Oberbürgermeister fühlte sich an "mittelalterliche Hinrichtungen" erinnert. Die Bild-Zeitung hat ihr obligatorisches Opferfoto abgedruckt, sogar mit Beatmungsschläuchen, wofür Kaders älterer Bruder auf der Intensivstation sein Handy zücken musste ("Ich war verwirrt, wie im Nebel, und die sagten noch, so ein Foto würde Kader nützen"). Der Täter - hier ist nicht der Bild-Journalist gemeint - hat sich gestellt und sitzt in Untersuchungshaft. Er heißt Nurettin B., aber in der Familie K. nennt man ihn nur noch "der". Es läuft wohl auf eine Anklage wegen versuchten Mordes hinaus.
Wie konnte der, das fragt sich Mutter Hayriye, ausgerechnet der unsere Kader heiraten? Es ist eine selbstkritische Frage. Die Ehe war arrangiert. Durch einen Freund der Familie, über den man heute lieber schweigt. Kader K. und Nurettin B. heirateten nach islamischem Ritus, ohne Standesamt. Die große Familie K. fand an dem Mann damals nichts auszusetzen, man "gab" sie ihm, wie es in der Familie heißt. Zumal der Mann Kader buchstäblich bekniete, ihn zu heiraten, mit Tränen in den Augen. Das raubt Mutter Hayriye heute den Schlaf.
Sie fragt sich auch: Warum hat man den nicht weggesperrt, als klar wurde, was das für einer ist? Bereits während der Schwangerschaft hatte er ihrer Tochter in den Bauch getreten. Nachdem Kader mit dem Neugeborenen zu ihr gezogen war, kam er aus Eimbeckhausen und brach ihr, der Mutter, die Nase. Zwei Tage vor der Bluttat zischte er Kader zu: Ich bringe dich um. Er hatte sogar ihre Anwältin bedroht, wegen der Unterhaltsklage.
Die Suche nach Antworten verläuft in losen Runden
Und da er trotz alldem noch frei herumlief - warum musste sie bloß diese Sechs-Uhr-Nachrichten anschalten, anstatt auf ihre Tochter aufzupassen? Sie zieht sich zum Gebet in Kaders kaltes, enges Zimmer zurück, kniet neben dem Kinderbett, am Fenster sitzen ein Plüschelefant, ein Hase, ein Bär, eine Kuh. Im Spiegelschrank spiegelt sich die nackte Glühbirne. Nach dem Gebet raucht die Mutter am Küchenfenster eine Supermarktzigarette.
Dieses Fenster. Von hier hat sie immer beobachtet, wie der den kleinen Cudi zurückbrachte. Freitags holte er ihn ab, sonntags brachte er ihn zurück, sein VW Passat stand unterm Baum vor dem Haus. Normalerweise. Diesmal parkte er hundert Meter weiter. Als er kurz nach dem Abendgebet ankam, klingelte wie immer Kaders Handy, sie ging wie immer hinunter.
Die Suche nach Antworten verläuft in losen Runden, bei der Mutter sind oft Nichten, Cousinen, Schwägerinnen, Enkel zu Besuch, im Treppenhaus kühlen viele Schuhe aus und aus der Wohnung riecht es nach Gebäck. Kaders älterer Bruder - der seine Schwester für die Bild abgelichtet hat - versucht, zu sich zu kommen. Er ist in Abwesenheit des Vaters eine Art Familienoberhaupt. Der Vater lebt in Izmir und versucht gerade, einen Pass zu beantragen.
Der große Bruder heißt Maruf. Er zog Kader K. in Hameln groß und nun ist er wieder ihr offizieller Vormund. Ein müder Mann in Nike-Schuhen, mit kurzem, schütterem Haar. Ein Koch, wie seine Schwester. Fünffacher Vater.
"Weißt du, wie sich das anfühlt? Deine Schwester so zu sehen, mit den Schläuchen?" Maruf K. greift mit der Hand nach einer imaginären Paprika. "Unheimlich scharf, du brennst, dir kommen die Tränen. Und nun stell dir vor, du isst tausend Chilis auf einmal. So fühlt sich das an."
Maruf K. setzt sich auf den Teppich, auf den Matratzen rechts und links trinkt die Verwandtschaft Tee. Seine Mutter nestelt an ihrer Gebetskette. Der kleine Cudi rammt den Onkel mit der Stirn. Sie haben ein Handyvideo für Mama aufgenommen, auf Kurdisch. Ich vermisse dich. Komm nach Hause. "Als sie Cudis Stimme hörte, hat sie tiefer geatmet. Sie hat verstanden, dass er in Sicherheit ist." Kader K. ist nach zwei Not-OPs (insgesamt zehn Stunden) und dreifachem Herzstillstand aus dem Koma erwacht, kann aber noch nicht sprechen, sie hat einen Schlauch im Mund.
Der Täter soll seiner Frau die ganze Aussteuer abgenommen haben
Was war sie für ein Mensch, vor dem Überfall? "Sehr emotional", sagt Maruf K. Sie habe Geld in die verwüsteten Kurdengebiete überwiesen. Und schlagfertig. " Der war am Anfang öfter bei mir, hat sich beschwert, sie würde ihm Kontra geben. Ich habe ihm gesagt: Misch dich bei ihr nicht ein, weder in der Küche noch beim Einkaufen. Es bringt nichts."
Und er, was war Nurettin B. für ein Mensch? "Sehr geizig", meint Maruf K. Die Verwandtschaft verfällt in zustimmendes Murmeln. Er habe versucht, Kader das Rauchen zu verbieten, weil es zu viel koste. Er habe ihr irgendwann ihren ganzen Goldschmuck, die ganze Aussteuer wieder abgenommen. "Sie konnte sich nicht mal hübsch machen, als sie auf eine Hochzeit eingeladen waren."
Wenige Tage vor der Tat habe Nurettin B. ein Amtsschreiben erhalten, das ihn endgültig zu Unterhaltszahlungen verpflichtete. Er hatte jahrelang dagegen geklagt. Das sieht Maruf K. als Hauptursache der Tragödie. "Er hat es einfach nicht verkraftet, dass er zahlen muss."
Nurettin B. war schon einmal verheiratet
Nur deswegen ist er so ausgerastet? "Er ist nicht ausgerastet", sagt Maruf K. "Ich denke, er hat das geplant. Du hast ein Messer dabei, gut, aber ein Seil?" Aber wozu ein öffentlicher Mord, all die Zeugen? Und danach ein Leben hinter Gittern? "Er wollte zeigen, was er für ein starker Mann ist", erwacht Mutter Hayriye.
Maruf schüttelt den Kopf. "Ich glaube nicht, dass das mit Männlichkeit zu tun hat. Es war mal tatsächlich so bei uns Kurden, mein Opa hatte fünf Frauen. Finde ich gar nicht gut. Aber nun ist der Stellenwert der Frau ein anderer." Er spricht von einem "ideologischen Wandel". Kurdische Frauen kämpfen ja auch gegen den IS.
Vor Kader war Nurettin B. schon einmal verheiratet, aber sie wissen nicht, woran die Ehe zerbrach. Nach Kader holte er sich eine Frau aus der Türkei, sie flog nach einem Monat zurück. Zuletzt sei er mit einer Syrerin zusammen gewesen. "Seine Mutter hat sich umgebracht", sagt jemand. "In einem Fluss, glaube ich."
"Ich werde ihm nie verzeihen", sagt die Mutter
Als Nurettin B. seiner Schwiegermutter die Nase brach, zog sie Cudi zuliebe die Anzeige zurück. "Wir wollten nicht, dass Cudi einen vorbestraften Vater hat." Nach seiner letzten Drohung führte die Polizei eine sogenannte Gefährderansprache durch, Nurettin B. soll sich einsichtig gezeigt haben. "Ich werde ihm nie verzeihen", sagt Mutter Hayriye. Es hat sich bis jetzt aber auch keiner entschuldigt bei der Familie K. Weder Nurettin B. noch sein Vater noch sonst wer.
Wenn Maruf K. seine Mutter besucht, fährt er die Strecke ab, auf der seine Schwester gefoltert wurde. Königstraße, Prinzenstraße, Kaiserstraße. Die Blutflecken sind weg. Um zu zeigen, was passiert ist, beschleunigt er nun extra und fährt im Zickzack. "So hat er sie hergeschleift, damit sie mit dem Kopf aufschlug."
An der Stelle, wo das Seil riss, brennen Kerzen. Plakate am Rasenzäunchen: "Warum??? Unfassbar." "DU schaffst das, wir sind bei DIR." "Gewalt gegen Frauen ist kein Kavaliersdelikt." 200 Meter weiter ist eine Polizeistation. "Wollte er sie an der Polizeistation vorbeischleifen? Zum Fluss fahren? Oder was wollte der?"
Nein, er versteht den nicht.